
Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft befürchtet, dass die Abschaffung des Pflegegrads 1 dazu führt, dass Entlastungsangebote für Demenzkranke und ihre pflegenden Angehörigen wegbrechen und die häusliche Versorgung weniger genutzt wird. Das würde Staat und Gesundheitssystem stark belasten. Foto: Gerhard Seybert/stock.adobe.com
Verband warnt: Abschaffung von Pflegegrad 1 bedeutet Gefährdung der Versorgung von Menschen mit Demenz
Die Abschaffung des Pflegegrads 1 führt zu einem Wegbrechen von Entlastungsangeboten für Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen und gefährdet damit die häusliche Versorgung von Menschen mit Demenz durch Angehörige. Deswegen warnen Verbände wie die Deutsche Alzheimer Gesellschaft und Betroffene bei Überlegungen zur Abschaffung von Pflegegrad 1 davor, dass über 800.000 Menschen ihre aktuellen Hilfsleistungen verlieren könnten.
Frühe Entlastung für Menschen mit Demenz gefährdet
Wie der Presse zu entnehmen ist, plant die Bundesregierung eine Streichung des Pflegegrades 1 und der damit verbundenen Leistungen aus der Pflegeversicherung, um Kosten einzusparen. Pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz können über diese Leistungen bisher eine stundenweise Entlastung durch ehrenamtlich Helfende erhalten. Diese frühzeitige Entlastung ist deshalb wesentlich, weil die Betreuung und Pflege von Demenzerkrankten in der Regel viele Jahre andauert und Angehörige an ihre Belastungsgrenzen bringt, wenn sie nicht zumindest regelmäßige Atempausen haben können. Sie ist damit ein wichtiger Beitrag in der gesundheitlichen Prävention für pflegende Angehörige.
Die Zahlen sprechen eigentlich für sich:
- In Deutschland leben heute etwa 1,8 Millionen Menschen mit Demenzerkrankungen.
- Rund zwei Drittel davon werden in der häuslichen Umgebung von Angehörigen betreut und gepflegt. Das heißt: Auf jeden Demenzkranken in der häuslichen Pflege kommen immer noch zwei, drei oder mehr pflegende Privatpersonen, die auf eine Unterstützung bei der häuslichen Pflege angewiesen sind.
- Jährlich erkranken etwa 400.000 Menschen neu.
- Ungefähr 60 Prozent davon haben eine Demenz vom Typ Alzheimer.
- Die Zahl der Demenzerkrankten wird bis 2050 auf 2,3 bis 2,7 Millionen steigen, sofern kein Durchbruch in Prävention und Therapie gelingt.
Unterstützungsangeboten droht das Aus
„Vor der Reform der Pflegeversicherung 2017 mit Einführung von 5 Pflegegraden gab es die ‚Pflegestufe 0‘“, sagt dazu Swen Staack, Vorsitzender der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. „Diese Pflegestufe 0 wurde speziell für die besonderen Bedarfe von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen eingeführt. Hierüber konnten Besuche in Demenz-Betreuungsgruppen sowie der Einsatz von Einzelhelfenden bei den Betroffenen zuhause finanziert werden.“
Und, so Staack weiter: „Wenn Pflegegrad 1 nun tatsächlich gestrichen werden sollte, bedeutet das für die betroffenen Familien nicht nur, dass die monatlichen Leistungen von 131 € für solche Angebote wegfallen. Es besteht die Gefahr, dass die Angebote selbst wegfallen, weil damit auch die finanzielle Unterstützung für die Qualifizierung und Koordination der ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer wegfallen dürfte.“
Wenn die Pflegenden überlastet sind, steigen die Gesundheitskosten
„Pflegende Angehörige brauchen Unterstützung bei der Versorgung von Menschen mit Demenz, damit sie diese Aufgabe dauerhaft übernehmen und die Pflege zuhause sicherstellen können. Wenn diese Unterstützung wegfällt, bedeutet das in der Konsequenz, dass Pflegefähigkeit früher erschöpft ist und Menschen mit Demenz früher in die stationäre Pflege überwechseln müssen. Damit dürften die Kosten für das Gesundheits- und Pflegesystem stärker steigen, als die Einsparungen, die an dieser Stelle erreicht werden können. Angesichts des immer größer werdenden Pflegenotstands ist das eine bedrohliche Entwicklung, die unbedingt vermieden werden muss. Es ist heute und in den kommenden Jahren und Jahrzehnten vielmehr essentiell wichtig, die Pflegefähigkeit von Angehörigen so lange wie möglich aufrecht zu erhalten!“
Was bringt der Pflegegrad 1 für Betroffene?
Der Pflegegrad 1 ist der niedrigste der fünf Pflegegrade im deutschen System der gesetzlichen Pflegeversicherung und markiert eine geringe Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten (§ 15 SGB XI). Auch wenn der Leistungsumfang bei Pflegegrad 1 im Vergleich zu höheren Graden begrenzt ist, bestehen dennoch einige wichtige Leistungen und Vorteile, insbesondere zur Unterstützung im Alltag und zur Entlastung. Hier eine Zusammenstellung:
In der Praxis ist der Nutzen von Pflegegrad 1 für viele Betroffene vor allem eine niedrigschwellige Unterstützung: der Entlastungsbetrag kann helfen, die alltägliche Lebensbewältigung zu erleichtern und Angehörige etwas zu entlasten. Ohne Pflegegrad 1 würden manche dieser kleinen Hilfen möglicherweise entfallen – insbesondere dann, wenn der Unterstützungsbedarf noch zu gering ist, um einen höheren Pflegegrad zu rechtfertigen.
Deswegen warnen Verbände und Betroffene bei Überlegungen zur Abschaffung von Pflegegrad 1 oft davor, dass über 800.000 Menschen ihre aktuellen Hilfsleistungen verlieren könnten.
Welche Kriterien müssen erfüllt sein, um Pflegegrad 1 zu erhalten?
Die gesetzliche Grundlage und das Verfahren sind in § 15 SGB XI geregelt. Dort heißt es (vereinfacht):
- Pflegebedürftige erhalten nach der Schwere der Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder Fähigkeiten einen Pflegegrad.
- Das Begutachtungsinstrument ist in sechs Module gegliedert (je Modul werden bestimmte Aspekte der Alltagsbewältigung untersucht).
- Jedem Modul sind Kategorien und Punkte zugeordnet, und die erreichten Punkte werden nach Modulgewichtungen zu einem Gesamtpunktewert addiert.
- Pflegegrad 1 wird zuerkannt, wenn 12,5 bis unter 27 gewichtete Gesamtpunkte erreicht werden – das entspricht einer „geringen Beeinträchtigung der Selbstständigkeit“.
- Die Module decken verschiedene Lebensbereiche ab, etwa Mobilität, kognitive / kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, Selbstversorgung, Bewältigung krankheits- oder therapiebedingter Anforderungen und Gestaltung des Alltagslebens / sozialer Kontakte.
Kurz gesagt: Es geht nicht um die Diagnose an sich, sondern um die Auswirkungen auf den Alltag — wie sehr eine Person noch selbstständig handeln kann oder wo und wie oft sie Unterstützung benötigt.
Weitere Hinweise:
- Die Beeinträchtigungen müssen dauerhaft, das heißt voraussichtlich mindestens sechs Monate bestehen.
- Der Gutachter (beim MD/MDK) legt das Gutachten auf Basis des Begutachtungsinstruments an und bewertet die sichtbaren Einschränkungen in den Alltagsbereichen.
- Das Gutachten soll transparent und nachvollziehbar sein; in den Richtlinien ist vorgeschrieben, wie die Punktevergabe gestaltet ist.
- In Fällen, in denen manche Prüfungen (zum Beispiel körperlich) nicht möglich sind (etwa wegen Schmerzen oder psychischer Erkrankung), muss das ausdrücklich dokumentiert und gegebenenfalls begründet werden.
Eine wichtige Konsequenz ist: Ein Antragsteller sollte möglichst genau und realistisch schildern, in welchen Alltagssituationen Hilfe benötigt wird, wie oft und wie intensiv — unterstützt durch zum Beispiel Pflegetagebuch, ärztliche Berichte, Dokumentation von Ausfällen usw.
Werden psychische Störungen oder Demenz gegenüber körperlich-motorischen Problemen abgewertet?
Das ist einer der zentralen Kritik- und Unsicherheitspunkte in der Praxis. Die Frage lautet: Wird eine Person mit stärkeren psycho-kognitiven Einschränkungen, aber relativ wenigen körperlichen Einschränkungen schlechter eingestuft als eine Person mit klaren körperlichen Einschränkungen?
Die gute Nachricht: Seit der Reform mit dem „Neuen Begutachtungsassessment“ (eingeführt durch das Pflegestärkungsgesetz II ab 2017) sind psychische, geistige und verhaltensorientierte Beeinträchtigungen gleichwertig als Teil der Bewertung berücksichtigt, insbesondere im Modul „kognitive und kommunikative Fähigkeiten / Verhaltensweisen und psychische Problemlagen“.
Ein paar Aspekte zur Einordnung:
- Die Module zu kognitiven / psychischen Aspekten werden gewichtet (zum Beispiel Modul 2 und Modul 3, die sich mit kognitiven/kommunikativen Fähigkeiten und Verhaltensweisen sowie psychischen Problemen befassen) und fließen in die Gesamtpunktzahl ein.
- Die Richtlinien vorsehen ausdrücklich, dass nicht nur körperliche Einschränkungen, sondern auch psychische Beeinträchtigungen berücksichtigt werden müssen bei der Bewertung der Selbstständigkeit / Fähigkeiten (§14 SGB XI)
- In Fällen von Demenz wird besonders auf Aspekte wie Alltagskompetenz, Orientierung, Sicherheit, Sozialverhalten, psychische Verfassung und Unterstützung im Alltag geachtet.
- Das heißt: Bei starken psychischen Beeinträchtigungen, die zum Beispiel dazu führen, dass jemand den Alltag kaum noch allein bewältigen kann (etwa wegen Antriebsstörungen, Desorientierung, ausgeprägter Pflegebedürftigkeit in Grundfunktionen) kann der durch diese Beeinträchtigungen resultierende Hilfebedarf durchaus in einem höheren Pflegegrad resultieren.
Allerdings muss man realistisch sehen, dass in der Praxis manche psychischen Einschränkungen schwieriger zu quantifizieren sind als körperliche Einschränkungen (etwa wie oft Hilfe beim Gehen, Ankleiden, Transfer). Dadurch entstehen oft Herausforderungen:
- Manche Gutachter könnten — bewusst oder unbewusst — stärker auf sichtbare körperliche Einschränkungen achten, weil sie leichter quantifizierbar sind.
- Selbst bei erheblichen psychischen Beeinträchtigungen könnte der Punktewert ggf. nicht ausreichen, wenn die Unterstützungsbedarfe in körperlichen Modulen (zum Beispiel Mobilität, Selbstversorgung) noch relativ gering sind.
- Insbesondere bei schwankenden Symptomen oder bei Phasen, in denen es „gute Tage“ gibt, besteht das Risiko, dass an einem Begutachtungstag ein günstigerer Zustand dargestellt wird, der die Bewertung beeinflusst. Daher ist es wichtig, auch negative Phasen, Krisen oder Ausfallzeiten zu dokumentieren.
In der Fachliteratur wird gelegentlich kritisiert, dass psychische Einschränkungen in manchen Fällen in der Praxis unterbewertet werden — etwa weil die Messung und Erfassung schwieriger ist, oder weil Antragsteller ihre Leistungseinbußen zu stark beschönigen.
Ein weiterer praktischer Hinweis: Bei psychischen Erkrankungen (zum Beispiel Depression, Angststörungen) werden typischerweise Fragen des MD/MDK zur Alltagsbewältigung, Motivation, Konzentration, Antriebsverlust, Stimmung, Hilfebedarf bei Alltagstätigkeiten etc. gestellt, um den tatsächlichen Unterstützungsbedarf abzubilden. Eine gut dokumentierte Darstellung (zum Beispiel mit Pflegetagebuch, ärztlichen Stellungnahmen) kann hier entscheidend sein. Psychische und kognitive Beeinträchtigungen sind ausdrücklich gesetzlich vorgesehen und Teil der Bewertung. Aber in der Praxis hängt der Erfolg eines Antrags oft davon ab, wie klar der Unterstützungsbedarf dargestellt, dokumentiert und nachvollziehbar gemacht wird.
Info
Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft engagiert sich für ein besseres Leben mit Demenz. Sie unterstützt und berät Menschen mit Demenz und ihre Familien. Sie informiert die Öffentlichkeit über die Erkrankung und ist ein unabhängiger Ansprechpartner für Medien, Fachverbände und Forschung. In ihren Veröffentlichungen und in der Beratung bündelt sie das Erfahrungswissen der Angehörigen und das Expertenwissen aus Forschung und Praxis. Als Bundesverband von mehr als 130 Alzheimer-Gesellschaften unterstützt sie die Selbsthilfe vor Ort.
Gegenüber der Politik vertritt sie die Interessen der Betroffenen und ihrer Angehörigen. Die DAlzG setzt sich ein für bessere Diagnose und Behandlung, mehr kompetente Beratung vor Ort, eine gute Betreuung und Pflege sowie eine demenzfreundliche Gesellschaft. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft ist als Interessenvertreterin von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen im Lobbyregister des Deutschen Bundestags eingetragen und hat sich dem dafür geltenden Verhaltenskodex verpflichtet. pm/tok