Nach Angaben des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit wurden 2022 rund 540 Tonnen Antibiotika an Tierärzte abgegeben. Für Pharma-Unternehmen ist dies das wesentlich lukrativere Geschäft, denn mit Antibiotika für Menschen ist wesentlich weniger verdient. Deshalb befürchten Apotheken in der Infektzeit wieder Lieferengpässe bei diesen Medikamenten. Foto: dusanpetkovic1/stock.adobe.com

Apotheken verärgert: Antibiotika für Tiere im Überfluss, Engpässe für den Menschen

Das Thema ist nicht neu, doch zuletzt waren immer mehr Patienten von Lieferengpässen bei Antibiotika betroffen. Ein Grund dafür: Die industrielle Tierhaltung nutzt auch Hunderte Tonnen von Antibiotika, um den Tierbestand bis zur Schlachtreife gesund zu halten. Weil die Tierzüchter bereit sind, deutlich mehr für Antibiotika zu zahlen, landen weniger dieser für den menschlichen Gebrauch billiger gehandelten Medikamente in den Apotheken – und damit auch weniger bei den kranken Menschen, die Antibiotika dringend gebrauchen.

Multiresistente Keime sind globales Gesundheitsrisiko

Verschärfend kommt hinzu: Die Massentierhaltung erhöht nicht nur für den Menschen das Risiko von Infektionskrankheiten auf vielfältige Weise, wenn zum Beispiel Bakterien über tierische Lebensmittel oder über das Trinkwasser auf den Menschen übertragen werden. Der massive Antibiotikaeinsatz begünstigt die Entwicklung von Resistenzen bei den Bakterien. Dabei werden Gesundheitsrisiken durch Multiresistente Keime von den Vereinten Nationen und der WHO zu einem der zehn größten globalen Gesundheitsrisiken erklärt.

2022 gingen 540 Tonnen Antibiotika an die Tiermedizin

Immerhin: Die Menge der in der Tiermedizin abgegebenen Antibiotika in Deutschland ist im Jahr 2022 erneut deutlich zurückgegangen. Nach Angaben des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) wurden insgesamt 540 Tonnen Antibiotika an Tierärzte abgegeben. Dies sind 61 Tonnen weniger als im Vorjahr (minus 10,1 %). Da hatte der Rückgang gegenüber 2020 noch 14,3 % betragen. Im Vergleich zu 2011, dem ersten Jahr der Erfassung der Antibiotika-Abgabemengen, bedeutet dies eine Reduzierung der insgesamt abgegebenen Antibiotikamenge um 68 %. 

Die größten Mengen entfallen wie in den Vorjahren auf Penicilline (228 Tonnen) und Tetrazykline (90 Tonnen), es folgen Sulfonamide (54 Tonnen), Makrolide (46 Tonnen) und Polypeptidantibiotika (44 Tonnen). Für die Mengen abgegebener Cephalosporine der 3. und 4. Generation, Fluorchinolone und Polypeptidantibiotika, welche von der WHO als Wirkstoffe mit besonderer Bedeutung für die Therapie beim Menschen (Highest Priority Critically Important Antimicrobials for Human Medicine) eingestuft werden, sind im Vergleich zum Vorjahr erneut Rückgänge zu verzeichnen.  

EU gibt das Tempo vor

Cephalosporine der 3. und 4. Generation, Fluorchinolone und Colistin sind auch nach der Kategorisierung der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA; AMEG-Kategorisierung) nur beschränkt in der Tiermedizin einzusetzen. Alle erfassten Abgabemengen dieser Wirkstoffklassen sind auf dem niedrigsten Wert seit 2011. Entsprechend der Farm-to-Fork-Strategie der Europäischen Kommission soll der Antibiotikaeinsatz in der landwirtschaftlichen Tierhaltung zwischen 2018 und 2030 europaweit um 50 % gesenkt werden. In Deutschland konnten die Verkäufe von Antibiotika in der Tiermedizin in den Jahren 2018 bis 2022 bereits um 25 % reduziert werden.

Staatliche Sparpolitik bremst Pharmahersteller

Antibiotika, so Apothekerin Stephanie Isensee von der Pregizer Apotheke in Pforzheim, würden nur dann ärztlich verordnet, wenn ein bakterieller Infekt vorliege. „Für einen solchen Fall kann man nicht vorsorgen“, sagt Stephanie Isensee. Also muss man als Patient darauf vertrauen, dass in der Apotheke genug Antibiotika vorrätig sind, um mit der Behandlung nicht unnötig lange warten zu müssen. Und da scheint es nun wie im Vorjahr Probleme geben zu können.

„Ärgerlich macht es mich, dass die Politik seit Jahren auf diese Situation hingesteuert hat. Als Folge jahrzehntelanger Sparpolitik haben sich die Pharmahersteller andere Absatzmärkte gesucht, die ihnen ein wirtschaftliches Auskommen ermöglichen“, sagt die Pforzheimer Apothekerin.

Deutlich mehr Gewinn mit Antibiotika für Tierzüchter

Sie verweist auf ein Beispiel, das ein Apotheker aus Schlitz im Onlinemagazin Apotheke Adhoc veröffentlicht hat. Während Tierarztpraxen über genügend Antibiotika verfügen würden, sei es jetzt schon nicht immer sofort in jeder Apotheke verfügbar. Seine Rechnung: 1 Gramm Amoxiclavulan wäre für die Nutzung in der Tiermedizin rund sieben Mal so teuer wie für den menschlichen Gebrauch.  

Die logische Konsequenz: Pharmaunternehmen verkaufen ihre Produkte bevorzugt zum besten Preis. 76 Prozent der Antibiotika, die in der Landwirtschaft und Aquakultur eingesetzt werden, sind auch in der Humanmedizin wichtig. Und am Ende bekommen die Apotheker den Umut der Patienten ab, die nicht wissen, woher sie das dringend benötigte Medikament bekommen sollen. „Wie kann es sein, dass sich eine Industrienation wie Deutschland die Arzneimittelversorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Arzneimitteln nicht leisten kann oder will? Es ist eine Schande“, klagt Stephanie Isensee. Ihre düstere Vorahnung: „Wir Apotheker haben den Eindruck, dass wir sehenden Auges in einen chaotischen Herbst schlingern.“

Antibiotika-Problem spiegelt „Marktversagen“

Ein „Marktversagen liegt vor, wenn der Marktmechanismus aus Angebot und Nachfrage nicht zu den volkswirtschaftlich wünschenswerten Ergebnissen führt“, heißt es im Online-Wirtschaftslexikon der Bundeszentrale für politische Bildung. Ein Beispiel, das sich zur Erklärung bestens eignet? Die Forschung und Entwicklung an neuen Antibiotika. Ökonom Adrian Towse aus dem Vereinigten Königreich (UK) und Wissenschaftlerin Rachel Silverman Bonnifield vom US-amerikanischen Think Tank „Center for Global Development“ schreiben in einer gemeinsamen Publikation: „Grob gesagt entsteht ein Marktversagen, weil es Privatunternehmen nicht möglich ist eine auskömmliche Rendite zu erwirtschaften – trotz des sehr hohen gesellschaftlichen Werts, den neue antimikrobielle Substanzen haben“.

„Bei neuen Antibiotika-Klassen erreicht nur jeder 30. Wirkstoff-Kandidat in der präklinischen Entwicklung den Patienten – alle anderen scheitern aus den verschiedensten Gründen“, betonte John McGinley von Pfizer Deutschland in einem Interview mit Pharma Fakten. „Ein Antibiotikum zu entwickeln, kann über eine Milliarde Euro kosten – wir müssen die gescheiterten Projekte ja in die Kalkulation mit einbeziehen. Und es kann gut und gerne bis zu fünfzehn Jahre dauern.“ Auf diese Tatsache trifft eine geringe Renditeaussicht – ein Geschäftsmodell ist das nicht.

Katastrophe mit Ansage: „Reserveantibiotika“ für Geflügelmast

Dass besondere Eile bei der Verringerung des Antibiotika-Einsatzes in der industriellen Tierhaltung geboten ist, zeigt auch die Frage nach neuen Ersatzmedikamenten für die bekannten Antibiotika, denn je mehr Resistenzen die Bakterien aus der Tierzucht entwickeln und desto mehr von ihnen den Weg zum Menschen finden, desto weniger können Antibiotika noch im Akutfall helfen. Besonders gefährlich ist deshalb der Einsatz sogenannter „Reserveantibiotika” in der Tierhaltung.

Reserveantibiotika kommen zum Einsatz, wenn sich Erreger nur noch mit einem beziehungsweise wenigen Mitteln behandeln lassen. Grund dafür sind jene Antibiotikaresistenzen aus der Massentierhaltung. Colistin wirkt zum Beispiel gegen eine Vielzahl von bakteriellen Infektionen und ist das letzte Mittel zur Bekämpfung bestimmter Bakterien der Gattung Enterobacter. Aber es gilt als wachstumsfördernd und wird deshalb laut dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft in großem Umfang in deutschen Hühner- und Putenmastbetrieben eingesetzt.

Resistenzgen mcr-1 in Tier und Mensch

Ohne Verbot geschieht das wohl so lange, bis die Bakterien in den Mastbetrieben gegen Colistin resistent sind. Schon jetzt tragen fast 100 % der Nutztiere das Resistenzgen mcr-1 in sich. Und das gilt auch für immer mehr Menschen. Lance Price, ein Antibiotikaforscher an der George Washington University in Washington DC, sieht darin den Beweis dafür, wie der Einsatz von Antibiotika auf landwirtschaftlichen Großbetrieben zu Resistenzen bei menschlichen Infektionen führen.

Wettrennen mit der Resistenzentwicklung

„Die Menschheit befindet sich in einem Wettrennen mit der Resistenzentwicklung“, so der Ökonom Towse und die Wissenschaftlerin Bonnifeld. Die Lebensspanne von Medikamenten wie Antibiotika ist natürlicherweise durch Evolutionsprozesse begrenzt – denn Krankheitserreger mutieren über die Zeit; das Bakterium, das sich am besten anpasst und am überlebensfähigsten ist, setzt sich durch. Nichtstun kommt nicht in Frage: „Wir müssen sicherstellen, dass neuartige antimikrobielle Arzneimittel verfügbar sind, um althergebrachte Therapien, deren Wirkung abnimmt, zu ersetzen.“

Für „eine starke Entwicklungspipeline“ zu sorgen ist allerdings nicht die einzig zu ergreifende Maßnahme. „Das Risiko für Resistenzen steigt, wenn antimikrobielle Medikamente zu oft oder unsachgemäß angewendet werden“. Ein zu früher Therapieabbruch, übermäßiger Gebrauch von Antibiotika in der Tierhaltung, unbedachte Freisetzung der Wirkstoffe in die Umwelt – dies alles beschleunigt die Krise.

Hintergrundinformation

Die Entwicklung und Verbreitung von Antibiotikaresistenzen stellt eine globale Bedrohung dar, in der Human- und in der Veterinärmedizin. Der Transfer von antibiotikaresistenten Bakterien und/oder der Transfer von Resistenzgenen sind wechselseitig zwischen Mensch und Tier möglich.

Seit dem Jahr 2011 sind pharmazeutische Hersteller und Inhaber einer Großhandelsvertriebserlaubnis gesetzlich dazu verpflichtet, die Mengen an Antibiotika, die jährlich an Tierärztinnen und Tierärzte in Deutschland abgegeben werden, zu melden. Diese Daten werden im Tierarzneimittel-Abgabemengen-Register (TAR) erfasst.   tok/pm/Pharma-Fakten.de