Die Impfsituation in Europa ist erstaunlich uneinheitlich: In Schweden sind 83 % der Mädchen und 77 % der Jungs im Alter von 15 Jahren zweifach gegen Humane Papillomviren (HPV) geimpft – in Bulgarien liegt die Rate bei 2 % bei den Mädchen. Dabei kann die Impfung verschiedene Krebsarten vermeiden. Foto: Татевик Багдасарян/stock.adobe.com

Impfungen retten Leben – aber Europa lahmt bei der Immunisierung

„Wir wissen, dass die Immunisierung von unglaublich großem Nutzen für unsere Gesellschaften sein kann. Aber Tatsache ist, dass wir ihr Potenzial momentan nicht voll ausschöpfen“, sagt Sibilia Quilici, Geschäftsführerin von „Vaccines Europe“ als Stimme von in Europa tätigen Impfstoffunternehmen. In einem „Manifest“ fordern die Firmen EU-Politiker dazu auf, eine Strategie zu implementieren, um Menschen aller Altersgruppen künftig besser vor impfpräventablen Erkrankungen zu schützen.

Impfung können Krebs oder Hirnhaut-Entzündungen vermeiden

In Schweden sind 83 Prozent der Mädchen und 77 Prozent der Jungs im Alter von 15 Jahren zweifach gegen Humane Papillomviren (HPV) geimpft (Stand: 2021) – in Bulgarien liegt die Rate bei 2 Prozent bei den Mädchen. Dabei kann die Impfung „verschiedene Krebsarten vermeiden, von denen der Gebärmutterhalskrebs der bekannteste ist“, betont Onkologe Prof. Dr. Christof von Kalle von der Charité in Berlin.

Diese Zahlen geben einen Hinweis darauf, wie groß die Unterschiede in Sachen Immunisierung innerhalb Europas sind. In Ungarn verfügen so gut wie alle Kinder (99,8 %) über einen vollständigen Impfschutz gegen Pneumokokken-Erkrankungen – ausgelöst von Bakterien können sie schwere Hirnhaut-, Lungen- oder Mittelohrentzündungen verursachen. In Slowenien liegt die Impfquote bei rund 58 Prozent.

Anderes Beispiel: 2022 hatten in Litauen 21,5 Prozent der Senioren ab 65 Jahren Influenza-Vakzine erhalten, in Deutschland waren es rund 43 Prozent. Besser macht das unter anderem Spanien – dort lag die Rate bei rund 70 Prozent.

Spanien als Impf-Vorbild

Spanien will mehr erreichen: Den aktuellen Vorsitz im Rat der Europäischen Union (EU) möchte die Regierung nutzen, um die Bedeutung von Impfungen in den Fokus zu rücken. Im Juli richtete das Land ein „High Level Meeting“ in Madrid dazu aus. Spanien hat erkannt, wie wichtig es ist, das Impfen in allen Altersgruppen im Blick zu behalten.

Umgangssprachlich als „Kalender fürs Leben“ bekannt gibt der „Calendario de vacunación a lo largo de toda la vida“ den Spaniern einen Überblick über alle empfohlenen Impfungen entlang der verschiedenen Lebensphasen – angefangen vor der Geburt während der Schwangerschaft, über die Baby-Zeit und Kindheit, bis hin zum Erwachsen- und Seniorenalter. „Wir sind noch nicht am Ziel, aber wir sehen Fortschritte“, so Mediziner Dr. Jaime Pérez, Präsident der „Asociación Española de Vacunología“ (AEV). „Es finden Schulungen für Pflegekräfte und andere Personen statt, in allen Kliniken hängen Poster, es wurden Kommunikationsmaterialen entwickelt.“

Prävention wichtiger denn je

Spanien setzt also immer mehr auf Prävention. Andere Länder sollten es den Iberern gleichtun – schließlich wird es angesichts des demografischen Wandels für die Gesellschaften und ihre Wirtschafts- und Sozialsysteme immer wichtiger, Krankheiten zu verhindern, bevor sie entstehen. Doch es gibt viel zu tun.

Mit Blick auf Europa kritisiert Vaccines Europe: „Nur ein sehr kleiner Prozentsatz nationaler Gesundheitsbudgets ist für Prävention angedacht; und ein winziger Anteil […] geht in die Immunisierung.“ Das unterstreicht eine Untersuchung aus dem Jahr 2021: 77 Prozent der analysierten europäischen Länder gaben demnach weniger als 0,5 Prozent ihres gesamten Gesundheitsbudgets für Immunisierung aus.

Forderung nach Immunisierungsstrategie in der EU

Das gilt es zu ändern. In einem Manifest legen die Unternehmen hinter Vaccines Europe ihre Mission für die Jahre 2024 bis 2029 dar: „Wir fordern die EU auf, eine EU-Immunisierungsstrategie in der nächsten Legislaturperiode einzuführen, welche den Schutz vor impfpräventablen Erkrankungen über alle Generationen hinweg stärkt.“ Dabei sollte diese Strategie auf 3 Säulen aufbauen.

Erste Säule: Ein innovatives Europa

Forschung ist das A und O: In der Pipeline der Vaccines Europe-Mitgliedsfirmen sind zum Beispiel 11 Impfstoffkandidaten, die sich gegen Bakterien richten, die resistent gegen gängige Antibiotika geworden sind. Andere Prüfpräparate – rund 46 % aller Entwicklungsprojekte – zielen auf Infektionen ab, für die es bislang keine Impfstoffe gibt.

Doch seit 2000 ist die Zahl klinischer Impfstoff-Studien, die in der EU durchgeführt werden, um 35 Prozent gesunken. Europa hat im globalen Wettbewerb als Standort für pharmazeutische Spitzenforschung zunehmend das Nachsehen. Und nach einer Zulassung gibt es weitere Hürden: In einem Drittel der EU-Mitgliedsstaaten dauert es laut Vaccines Europe länger als 6 Jahre, bis in Europa neu zugelassene Impfstoffe bei den Bürgern ankommen. Wie schnell eine Innovation für die Menschen verfügbar ist, hängt davon ab, wo sie leben – die Unterschiede in der medizinischen Versorgung sind groß. Die Ursachen sind multifaktoriell – ineffiziente regulatorische Prozesse, aber auch mangelnde Ressourcen gehören dazu.

Vaccines Europe fordert die EU-Politiker auf, zukunftsgerichtet zu denken: Es brauche ein „innovatives Ökosystem für Forschung, Entwicklung und Produktion“. Dazu gehört unter anderem ein robuster, verlässlicher Schutz von geistigem Eigentum. Auch müssten die Stellen, die sich der Bewertung von neuen Gesundheitstechnologien widmen, „adäquat mit Finanzmitteln und ausgebildetem Personal ausgestattet sein“. Schließlich können die regulatorischen Verfahren, die notwendig sind, bis neue Vakzine in nationale Impfprogramme aufgenommen werden, nur dann sach- und fristgerecht ablaufen. Und: Die Politik muss die Rahmenbedingungen schaffen, damit alle Akteure – von der Industrie, über Patientengruppen, bis hin zu Verwaltungen und EU-Behörden – besser und transparenter zusammenarbeiten können.

Zweite Säule: Ein gesundes Europa

„Immunisierung rettet jedes Jahr Millionen Menschenleben“, betont Vaccines Europe. Impfstoffe haben dazu beigetragen, die Pocken auszurotten, Polio in den meisten Regionen der Welt zu eliminieren, Krankheiten wie Masern ihren Schrecken zu nehmen, Krebserkrankungen zu verhindern und Pandemien einzudämmen.

Doch weil nicht alle EU-Bürger gleichermaßen gut und schnell Zugang zu Impfstoffen haben, können sie ihren Wert nicht voll entfalten. Alle Parteien und Politiker sind gefragt, damit sich das ändert. Die EU müsse klare Impfziele über die gesamte Lebensdauer der Menschen setzen und im Blick behalten, findet Vaccines Europe. Das Ziel: der gleiche Schutz vor Krankheiten für alle Menschen – unabhängig von ihrer sozioökomischen Lage, ihrem Alter oder ihrem Aufenthaltsort – und somit eine Gesellschaft, die gesünder, belastbarer und gerechter ist.

Dritte Säule: Ein wohlhabendes Europa

Die Geldbeträge, die EU-Länder momentan für Prävention und Immunisierung bereithalten, sind „unzureichend“, um dem demografischen Wandel etwas entgegensetzen und die Impfquoten erhöhen zu können, kritisiert Vaccines Europe. Es müssten daher seitens der EU „angemessene Finanzierungsziele“ formuliert werden, sodass die einzelnen Nationen verstärkt in ihre Impfprogramme investieren.

Das lohnt sich nicht nur gesundheitlich: „Jeder Euro, der in Erwachsenen-Impfungen (ab 50 Jahren) investiert wird, ergibt Einnahmen in Höhe von 4 Euro, die im Laufe des restlichen Lebens der Betroffenen erwirtschaftet werden“, heißt es im Manifest. Menschen, die weniger krank werden, können mehr arbeiten gehen, sich gesellschaftlich mehr engagieren – und sie belasten weniger die Sozial- und Gesundheitssysteme. „Die Impfung gegen die jährliche, saisonale Grippe kann zwischen 248 Millionen Euro und 332 Millionen Euro an Gesundheitskosten in Europa einsparen, indem Krankenhauseinweisungen und Arztbesuche reduziert werden“, heißt es.   Pharma-Fakten.de