Die chronische Nierenerkrankung (CKD) oder Niereninsuffizienz ist eine der teuersten Erkrankungen. Deutschlandweit sind mindestens 9 Millionen Menschen betroffen. Man müsste nur zwei Tests in den Versorgungsalltag integrieren und bei Bedarf eine medikamentöse Therapie initiieren. Mit modernen Arzneimitteln gelingt es nämlich, eine teure Blutwäsche (Dialyse) um bis zu 13 Jahre hinauszuzögern. Foto: AbGoni/stock.adobe.com

Gesundheits- und Sozialsysteme weltweit stehen unter Druck

Egal ob in den reichsten Staaten oder in Dritte-Welt-Ländern, die Gesundheits- und Sozialsysteme stehen weltweit unter Druck – und den Menschen werden entweder immer höhere Abgaben zugemutet oder sie werden schlicht nicht nach den Möglichkeiten behandelt, welche die moderne Medizin zur Verfügung hat. Oder beides. Die Begründung: Es fehle an Geld. Aber stimmt das? Pharma-Forscher und Wirtschaftswissenschaftler sagen: Wir müssen nur weg vom Gesundheitssystem als reinem Reparaturbetrieb.

Pharma-Fakten.de hat Beispiele aufgeführt, wie man mit dem Einsatz von Tests, Therapien, Früherkennung oder Gesetzen Milliarden Euro sparen könnte, die aktuell der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und damit auch ihren Mitgliedern abverlangt werden. Am Ende stehen in der Reparaturmedizin nämlich hohe Kosten.

Beispiel 1: Chronische Nierenerkrankung

Sie ist wahrscheinlich eine der teuersten Erkrankungen überhaupt: Die chronische Nierenerkrankung (CKD), auch als Niereninsuffizienz bekannt. Kaum jemand hat sie auf dem Schirm, aber deutschlandweit dürften mindestens 9 Millionen Menschen betroffen sein.

Sie ist einfach zu diagnostizieren und sehr gut zu therapieren. Das passiert aber nicht. Das Ergebnis: unnötiges Leid und horrende Kosten. Die werden in den kommenden Jahren steigen – auf wahrscheinlich rund 10 Milliarden Euro pro Jahr – und das sind nur die Gesundheitskosten.

Ist das eigentlich nachhaltig zu ändern? Das sein kein Hexenwerk, wie Dr. Michael Seewald, Medizinischer Direktor beim forschenden Pharmaunternehmen AstraZeneca, im Pharma Fakten-Interview sagt: „Wir müssten nur 2 einfache Tests in den Versorgungsalltag integrieren und nach Diagnosestellung eine medikamentöse Therapie initiieren.“

Studien haben gezeigt, dass es mit modernen Arzneimitteln gelingen kann, eine teure und dabei auch den Patienten belastende Blutwäsche (Dialyse) um bis zu 13 Jahre hinauszuzögern. Ohne Intervention durch Gesetzgeber und GKV bleibt die CKD leider eine schlecht therapierte Krankheit mit milliardenschwerem Sanierungspotenzial zugunsten der Sozialsysteme.

Zwei einfache Tests müssten in den Versorgungsalltag der Menschen in Deutschland eingebunden werden, um eine chronische Nierenkrankheit früh zu erkennen und mit einer medikamentösen Behandlung die teure Dialyse um viele Jahre hinauszuschieben. Doch passiert ist in diesem Bereich des Gesundheitswesens noch nichts. So werden die Ausgaben für die Reparatur dieser Krankheit weiter steigen. Quelle: AstraZeneca/Grafik: Pharma Fakten e. V.

Beispiel 2: Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems führen eine dunkle Statistik an; keine Krankheit hat mehr Menschen auf dem Gewissen. Und die Kosten? In der EU schlagen Herzinfarkt, Schlaganfall und Co. mit 282 Milliarden Euro im Jahr zu Buche, die zulasten der Gesundheits- und Sozialsysteme gehen. Das hat die London School of Economics and Political Science (LSE) herausgefunden – mit dem Geld könnte man die eine oder andere Zeitenwende finanzieren.

Die LSE hat in einem Rechenmodell herausgefunden, was sich tun würde, wenn wir die zentralen Parameter Bluthochdruck, Diabetes, Hyperlipidämie besser einstellen und mehr gegen das Rauchen tun würden. In Deutschland könnten so rund 25.000 Todesfälle im Jahr vermieden werden – eine Stadt von der Größe Lindaus am Bodensee würden sie bevölkern. Für die EU zeigt die LSE-Simulation, dass in den kommenden 10 Jahren 1,2 Millionen tödliche Herzinfarkte und Schlaganfälle vermieden werden könnten, wenn 70 Prozent der Zielgruppe ihre Risikofaktoren besser managen würden. „Das ist eine konservative Schätzung“, sagt Professor Panos Kanavos, Mitautor des LSE-Berichts.

Beispiel 3: Diabetes

Diabetes – noch so eine stille Epidemie. In der EU sind über 30 Millionen Menschen betroffen; das entspricht der Bevölkerungszahl von Portugal, Kroatien und den Niederlanden zusammen. Alle 46 Sekunden verlieren wir in der EU einen Menschen als Folge einer diabetesbedingten gesundheitlichen Krise. 104 Milliarden Euro kostet die Erkrankung die EU-Gesundheitssysteme im Jahr.

Auch hier würden Investitionen in Gesundheitsprogramme Sinn machen – um die Früherkennung zu stärken, mehr Menschen den Zugang zu modernen Arzneimitteln zu erleichtern, um mithilfe digitaler Technologien den Kampf gegen die Erkrankung gezielter und effizienter zu führen.

Beispiel 4: Übergewicht

Übergewicht, beziehungsweise starkes Übergewicht hat mittlerweile jeder 8. Mensch auf dem Planeten. Adipositas ist längst ein globales Public-Health-Problem. In Deutschland gilt jede 8. Frau und jeder 10. Mann als adipös – ein Risikofaktor für Diabetes, Bluthochdruck, für Krebs-, Muskel- oder Gelenkerkrankungen. Auf fast 1000 Milliarden Dollar schätzt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die globalen Kosten; gleichzeitig hat sie berechnet, dass diese Ausgaben halbierbar wären, gelänge es, die Prävalenz zwischen 2020 und 2060 um 5 Prozent zu senken.

Beispiel 5: Krebs

Und natürlich darf in der Liste Krebs nicht fehlen, ein Sammelbegriff für rund 200 bösartige Tumorerkrankungen, eine Indikation, von der Experten erwarten, dass sie bald die Herz-Kreislauf-Erkrankungen vom ersten Platz der häufigsten Todesursachen verdrängen könnten: Schon demografiebedingt werden die Fallzahlen steigen. Die Zukunft hat bei der Krebsbekämpfung bereits begonnen, sagen Onkologen. Gen- und Immuntherapien revolutionieren die Art und Weise, wie Menschen mit Krebs behandelt werden.

Beispiel Lungenkrebs: „Wir sehen seit ein paar Jahren einen sensationellen Fortschritt“, sagt Professor Dr. Jürgen Wolf im Pharma Fakten-Interview. „Früher wurde zur Therapie in den fortgeschrittenen Stadien maßgeblich die Chemotherapie eingesetzt. Das brachte ein medianes Überleben von rund 10 bis 12 Monaten. Heute sehen wir bei Menschen mit gestreutem Krebs Überlebenszeiten von 5, 7 und mehr Jahren. Wir haben jetzt schon Patienten mit metastasiertem Lungenkrebs, die 10 Jahre leben und das mit 2 Tabletten am Tag.“ Aber: Ein Drittel der Patienten wird nicht erreicht – sie werden nicht molekular getestet und erfahren nie, ob eine solche moderne Therapie für sie in Frage gekommen wäre.

Onkologie: „Nicht nur Reparaturmedizin betreiben“

Prof. Michael Baumann, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), erklärte auf einer Veranstaltung des Tagesspiegels: „Durch Früherkennung und Prävention gemeinsam könnten wir in Deutschland ungefähr 60 Prozent aller Krebstodesfälle vermeiden“, man dürfe „nicht nur Reparaturmedizin betreiben.“ Auch für die Onkologie ist zu konstatieren: Es gibt systembedingtes Leid, das sich ein Land wie Deutschland weder leisten sollte noch leisten kann.

Im Pharma-Fakten-Gespräch betont Professor Dr. Christof von Kalle vom Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité: „Wenn das Kind in den Brunnen gefallen und Patienten ernsthaft krank geworden sind, laufen wir zu Höchstleistungen auf. Aber Medizin als Reparaturbetrieb ist auf Dauer unbezahlbar und auch nicht so erfolgreich wie sie sein könnte.“ Deshalb habe man in der ersten Hälfte der „Dekade gegen Krebs“ die Prävention intensiv thematisiert. „Die deutsche Krebshilfe, das Forschungsministerium für Bildung und Forschung und das Deutsche Krebsforschungszentrum bündeln ihre Anstrengungen jetzt durch die Einrichtung eines Nationalen Krebspräventionszentrums.“

Von Kalle ergänzt: „Es ist richtig und wichtig, jetzt gerade auch in der Versorgung massiv in die Prävention zu investieren und innovative Gesundheitsprogramme aufzulegen, die auf Krankheitsvermeidung, Früherkennung und leitliniengerechte Therapie setzen.“ Er sieht dadurch mittelfristig eine milliardenschwere Entlastung für die Kranken- und Sozialkassen. „Es fördert ein Gesundheitssystem, das die Gesundheitserhaltung nicht nur im Namen trägt. Wirklich den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen heißt, Krankheiten zu vermeiden, bevor sie entstehen, oder sie zumindest möglichst früh zu therapieren.“

Prävention: Jeder Euro als Beitrag zur Stabilisierung der GKV

Fünf Beispiele aus der Medizin – und die Liste ist nicht annähernd vollständig. Aber sie nährt stark den Verdacht, dass jeder zusätzliche in Prävention und Früherkennung investierte Euro einen aktiven Beitrag zur „stabilen, verlässlichen und solidarischen Finanzierung der GKV“ leisten würde, wie es in den Empfehlungen des Bundesgesundheitsministeriums heißt. Das Ergebnis könnte ein Gesundheitssystem sein, das deutlich effizienter deutlich bessere Ergebnisse zeitigt. Denn wir leisten uns zwar eines der teuersten Systeme der Welt, schneiden in Sachen Lebenserwartung im europäischen Vergleich aber bescheiden ab – Platz 18, wie die Zahlen von Statista.com zeigen. Das Ergebnis könnte ein Gesundheitssystem sein, in dem die GKV-Sanierung vom Menschen her gedacht wird – in Form einer besseren Medizin statt nur durch höhere Abgaben beziehungsweise Leistungskürzungen.

Der Bundesgesundheitsminister hat bereits mehr Prävention versprochen und neben dem Aufbau des Präventionsinstituts BIPAM auch ein Gesetzgebungsverfahren zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen angekündigt, das die Früherkennung und frühzeitige Behandlung stärken will. Ob das funktioniert? Seine Kritiker stehen schon bereit: Es wird unter anderem bezweifelt, dass ein sich einzelne Indikationen herauspickender Weg der richtige ist.    pm/tok