
Fahrsicherheitsrelevante Wirkungen haben insbesondere starke Schmerzmittel wie Morphin, manche Mittel gegen Angst oder Depressionen, manche Diabetes-Medikamente sowie Beruhigungsmittel. Mehr als 80 Prozent der Verkehrsteilnehmer, die unter Medikamenteneinfluss fahren, unterschätzen das Risiko. Foto: Satjawat/stock.adobe.com
Sekundenschlaf und vernebelte Sicht durch Medikamente: Risiken für Fahrtüchtigkeit oft unterschätzt
Der Straßenverkehr stellt hohe Anforderungen an Konzentration, Reaktionsvermögen und Wahrnehmung. Viele Menschen sind sich jedoch nicht bewusst, dass bestimmte Medikamente – auch solche ohne Rezept – die Fahrtüchtigkeit erheblich beeinträchtigen können. 15 bis 20 Prozent der zugelassenen Medikamente können die Fahrsicherheit beeinträchtigen.
Dies hat der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) bereits 2021 erklärt. Wie das Statistische Bundesamt hat für die Jahre 1990 bis 2019 berechnet, dass der Anteil der Unfälle mit Personenschaden unter Drogen und Medikamenten in diesem Zeitraum um das Siebenfache zugenommen hat. „Wegen der geringen Entdeckungswahrscheinlichkeit mangels standardisierter Schnelltests und uneinheitlicher Hinweise für die diesbezüglich oft unzureichend geschulten Polizeibeamten muss von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden“, so der DVR.
Beispiel Benzodiazepine: Unfallrisiko bis auf das Dreifache erhöht
Nur ein Beispiel, das die Dimensionen der Fahruntüchtigkeit nach Einnahme von Arzneimitteln zeigt: Rund 1,7 Millionen Menschen seien, so der DVR, bundesweit von Medikamenten – vorwiegend aus der Gruppe der zentralwirksamen Schmerzmittel und der Benzodiazepine – abhängig. Und: „Benzodiazepine erhöhen die Wahrscheinlichkeit schwerwiegender Straßenverkehrsunfälle um das 1,5 bis 3-fache. Verkehrsrelevante Funktionsbereiche wie die Aufmerksamkeit und die Konzentration, die optische Orientierungsleistung sowie die motorische Koordination der Fahrzeugführenden weisen unter dem Einfluss von Benzodiazepinen Defizite auf, die bis zu 9 Stunden nach Medikamenteneinnahme anhalten können.“
Fahrsicherheitsrelevante Wirkungen haben insbesondere starke Schmerzmittel wie Morphin, manche Mittel gegen Angst oder Depressionen, manche Diabetes-Medikamente sowie Beruhigungsmittel. Das Risiko steigt, je mehr solcher Arzneimittel eingenommen werden. Folgen können ein gefährlicher Sekundenschlaf sein oder eine extreme Beeinträchtigung, die durch den Mix aus Alkohol und Medikamenten die Sinne benebelt. Die Gefahr, die davon ausgeht, unterschätzen mehr als 80 Prozent der Verkehrsteilnehmer, die unter Medikamenteneinfluss fahren.
Problematische Arzneimittelgruppen für Autofahrer
Zahlreiche Medikamente beeinflussen direkt das zentrale Nervensystem oder beeinträchtigen die Sinneswahrnehmung und Koordination. Besonders relevant sind:
Psychotrope Medikamente
- Benzodiazepine und andere Tranquilizer: Häufig bei Angststörungen und Schlaflosigkeit eingesetzt. Sie verursachen Schläfrigkeit, verlängerte Reaktionszeiten und Konzentrationsstörungen.
- Antidepressiva (z. B. trizyklische Antidepressiva): Können Sedierung, verschwommenes Sehen und eine verminderte kognitive Leistungsfähigkeit hervorrufen.
- Antipsychotika: Diese Präparate führen teils zu starker Sedierung und extrapyramidalen Nebenwirkungen, die die Fahrzeugkontrolle erschweren können.
Analgetika und Opioide
- Starke Schmerzmittel (Morphin, Fentanyl etc.): Beeinträchtigen Aufmerksamkeit, motorische Koordination und Reaktionszeit.
- Nicht-opioide Schmerzmittel (z. B. Metamizol): Auch hier kann es zu zentralnervösen Nebenwirkungen wie Schwindel oder Müdigkeit kommen.
Antihistaminika (vor allem der 1. Generation)
- Präparate wie Diphenhydramin, die gegen Allergien und Schlafstörungen eingesetzt werden, wirken stark sedierend.
Antiepileptika und Parkinsonmedikamente
- Diese können das Bewusstsein, die Reaktionsfähigkeit und das Gleichgewicht negativ beeinflussen, insbesondere bei Neueinstellung oder Dosisänderung.
Augentropfen mit Mydriatika (zum Beispiel Atropin)
- Können das Sehvermögen durch Pupillenerweiterung erheblich einschränken, insbesondere bei Nachtfahrten.
Rezeptfreie Medikamente mit unterschätzten Risiken
Die Tatsache, dass Medikamente rezeptfrei erhältlich sind, senkt die Risikowahrnehmung bei Patienten häufig zu Unrecht. Auch nicht-verschreibungspflichtige Arzneimittel sind keinesfalls unbedenklich:
- Erkältungsmittel mit Antihistaminika (zum Beispiel Doxylamin, Diphenhydramin) machen oft schläfrig.
- Schmerzmittel wie Ibuprofen oder ASS können in hohen Dosen zentralnervöse Nebenwirkungen wie Schwindel auslösen.
- Reiseübelkeitstabletten mit Scopolamin oder Dimenhydrinat wirken sedierend.
Kritische Wechselwirkungen und Unverträglichkeiten
Alkohol und Medikamente
- Die Kombination ist besonders gefährlich. Alkohol potenziert die sedierenden Effekte vieler Medikamente und beeinträchtigt zusätzlich die Fahrtüchtigkeit.
Polypharmazie
- Bei Einnahme mehrerer Medikamente kann es zu additiven Nebenwirkungen (zum Beispiel verstärkte Müdigkeit) oder unerwarteten Wechselwirkungen kommen.
- Beispiel: Kombination von Antidepressiva und Antihistaminika kann zu übermäßiger Sedierung führen.
Metabolisierung über CYP-Enzyme
- Medikamente, die über dasselbe Leberenzym (zum Beispiel CYP3A4) verstoffwechselt werden, können sich gegenseitig in ihrer Wirkung verstärken oder abschwächen.
Rechtliche Konsequenzen
Wer unter dem Einfluss fahruntauglich machender Medikamente ein Fahrzeug führt, riskiert nicht nur Unfälle, sondern auch rechtliche Folgen wie Geldbußen, Punkte in Flensburg oder sogar den Verlust des Führerscheins. Laut § 316 StGB kann bei nachweisbarer Fahruntüchtigkeit auch eine Strafanzeige wegen Gefährdung des Straßenverkehrs erfolgen.
Empfehlungen für Patienten und Ärzte
- Aufklärungspflicht: Ärztinnen und Ärzte sowie Apotheker sollten gezielt über mögliche Beeinträchtigungen der Fahrtüchtigkeit informieren.
- Kennzeichnung: In Deutschland weisen Piktogramme (z. B. „Achtung – dieses Arzneimittel kann die Verkehrstüchtigkeit beeinträchtigen“) auf der Verpackung auf Risiken hin.
- Einnahmezeitpunkt beachten: Einige Medikamente sollten nicht vor Fahrten eingenommen werden – z. B. Schlafmittel am Vorabend.
- Eingewöhnungszeit: Besonders zu Beginn einer Therapie oder nach Dosisanpassungen ist besondere Vorsicht geboten.
Warnungen im Beipackzettel beachten und Apotheker fragen
Die Einnahme vieler Medikamente – auch rezeptfreier – kann die Fahrtüchtigkeit erheblich beeinträchtigen. Autofahrer sollten sich ihrer Verantwortung im Straßenverkehr bewusst sein und sich ärztlich beraten lassen, bevor sie unter Medikation ein Fahrzeug führen. Auch Apotheker sind in der Lage, Aus- und Nebenwirkungen von Medikamenten zu beurteilen. „Die Krankenkassen haben verstanden, dass viele Komplikationen und sogar Krankenhausaufenthalte durch eine fundierte Analyse vermieden werden können. Deshalb hat jeder Versicherte, der fünf und mehr Medikamente dauerhaft einnimmt, Anspruch auf eine solche Polymedikationsberatung in der Apotheke“, sagt Apotheker Dr. Holger Isensee von der Pregizer Apotheke in Pforzheim.
„Man muss sich vor Augen führen, dass sich ein Laie schwertut, die Gewichtung von Nebenwirkungen im Beipackzettel vorzunehmen. Bei Wechselwirkungen ist ein Patient eigentlich chancenlos. Da braucht es schon den Apotheker als Arzneimittelfachmann, um eine aussagekräftige Aussage bezüglich der Verträglichkeit zu treffen. Eine Analyse der Medikation stellt nach meiner Erfahrung für die Patienten in vielerlei Hinsicht eine große Hilfe dar“, erklärt der Pforzheimer Apotheker.
Da jeder Autofahrer laut Fahrerlaubnis-Verordnung selbst die Verantwortung für seine Fahrtüchtigkeit trägt, ist Vor- und Rücksicht geboten. Ein bewusster Umgang mit Arzneimitteln kann Leben retten – das eigene und das von anderen Verkehrsteilnehmern. tok