„Die medizinische Forschung orientiert sich am männlichen Normkörper“, sagt Prof. Dr. Sabine Oertelt-Prigione. Aber: Frauen zeigen bei den gleichen Erkrankungen häufig andere Symptome. Foto: stokkete/stock.adobe.com
Medizin: Männlicher Normkörper und wenig Daten zu weiblichen Symptomen
Geschlechterunterschiede in der Medizin – dieses Thema ist in der Mitte der Bevölkerung angekommen. Laut einer repräsentativen Studie der Pronova BKK wissen 9 von 10 Deutschen, dass Männer für bestimmte Erkrankungen ein anderes Risiko haben als Frauen.
Mehr als 8 von 10 Menschen sind zudem überzeugt, dass auch Krankheitssymptome geschlechterspezifisch sind. Gleichzeitig erhalten 67 % der 1000 Befragten von Ärzten keine Informationen über unterschiedliche Wirkungen von Medikamenten auf Frauen und Männer. Aus Sicht der Befragten wird dies weder in der Forschung noch im Arztgespräch ausreichend berücksichtigt.
Forschung orientiert sich am Mann
Abhilfe könnten mehr Informationen über geschlechterspezifische Unterschiede und ein entsprechendes Handeln der Politik schaffen. Mit 88 % glauben besonders viele Frauen, dass bei ihrem Geschlecht andere Symptome auftreten. 79 % der Männer sind gleicher Ansicht.
„Die medizinische Forschung orientiert sich am männlichen Normkörper“, bestätigt Prof. Dr. Sabine Oertelt-Prigione, Inhaberin von Deutschlands erster Professur für geschlechtersensible Medizin: „Frauen zeigen bei den gleichen Erkrankungen aber häufig andere Symptome. So sind bei Männern die klassischen Symptome für einen drohenden Herzinfarkt starke Brustschmerzen, junge Frauen können in dieser Situation unter Übelkeit und Schwindel leiden. Asthma zeigt sich bei Jungen durch Geräusche beim Atmen, bei Mädchen oft durch trockenen Husten.“
Bei der Diagnose von Erkrankungen, aber auch bei der Behandlung ist es wichtig, dass Ärztinnen und Ärzte geschlechtsspezifische Unterschiede berücksichtigen.
Frauen und Männer unterschiedlich betroffen
„Frauen leiden generell öfter unter Nebenwirkungen von Arzneimitteln. Gleichzeitig können Medikamente bei Frauen aufgrund von Körpergröße, Gewicht und Hormonen anders wirken als bei Männern“, so Sabine Oertelt-Prigione.
„Wir haben bei klinischen Studien zu Corona festgestellt, dass das Geschlecht kaum beachtet wurde, obwohl längst bekannt war, dass Männer und Frauen unterschiedlich betroffen sind – es hatte sich einfach so etabliert und war gesellschaftlich akzeptiert. Inzwischen sehen wir bereits einen Wandel bei der Auswahl der Probanden für Studien. Die geschlechterspezifische Analyse erfolgt aber weiterhin zu selten.“
Pharmafirmen und Gesetzgeber in der Pflicht
Wie die Studie zeigt, wissen viele Menschen, dass es auch bei Krankheiten und Symptomen geschlechtsspezifische Unterschiede geben kann. Doch bei der Vermittlung konkreter Fakten hapert es: 82 % der Befragten erwarten generell mehr Informationen, wie sich Symptome bei Erkrankungen wie zum Beispiel beim Herzinfarkt je nach Geschlecht unterscheiden. Auch die Pharmaindustrie sollte nach Ansicht von 87 % der Deutschen ihre Packungsbeilagen anpassen und dort klar auf die Unterschiede bei der Verwendung durch Männer und Frauen hinweisen.
86 % der Befragten sehen den Gesetzgeber in der Pflicht, klare Vorgaben zu einer geschlechterangepassten Gesundheitsversorgung zu machen. „Hier wird sich erst etwas verändern, wenn es klare Regularien gibt. Beispielsweise muss die Politik dafür sorgen, dass nur noch Studien finanziert werden, die das Geschlecht berücksichtigen“, erklärt Oertelt-Prigione. „Dort wo die Datenlage bereits gut ist, wie in der Kardiologie, können Leitlinienveränderungen angeschoben und Therapien geschlechterspezifisch angepasst werden.“
Im Arzt-Gespräch sind Genderunterschiede oft kein Thema
Im Gespräch mit Ärzten wird besonders von Frauen mangelnde Transparenz beklagt: Nur 26 % sagen, ihr Arzt habe sie über die unterschiedlichen Wirkungen von Medikamenten aufgeklärt – im Unterschied zu 40 % der Männer. Insgesamt haben zwei Drittel der befragten Frauen und Männer keine entsprechende Auskunft bei der ärztlichen Behandlung erhalten. 83 % wünschen sich deutliche Hinweise von Medizinern, wenn noch unklar ist, ob Medikamente auf Männer und Frauen unterschiedlich wirken. Nur 33 % sagen, ihr Arzt habe mit ihnen darüber gesprochen.
„Der Wandel zur personengerichteten Medizin mit dem Ziel, einen kooperativen Prozess zwischen Patientinnen, Patienten, Ärztinnen und Ärzten zu schaffen, beginnt erst. Dafür müssen die Medizinerinnen und Mediziner ihre Deutungshoheit aufgeben und die Expertise ihrer Patientinnen und Patienten für die eigene Gesundheit wahrnehmen“, sagt Sabine Oertelt-Prigione. „Andere Länder wie die Niederlande, Kanada oder Großbritannien sind da weiter. Die jüngere Generation treibt diesen Wandel auch bei uns in Deutschland voran.“ pm