Bei chronischen Schmerzen spielen neben körperlichen Aspekten wie zum Beispiel Verletzungen auch weitere Faktoren aus dem täglichen Leben eine Rolle. Deshalb analysieren Ergotherapeuten schon beim Behandlungsstart den Alltag Betroffener, um negative Faktoren zu reduzieren oder zu eliminieren. Foto: DDRockstar/stock.adobe.com

Jeder Vierte hat chronische Schmerzen: Ergotherapeuten helfen auf körperlicher und mentaler Ebene

Die Deutsche Schmerzgesellschaft geht davon aus, dass es in Deutschland (Stand Juni 2025) rund 23 Millionen Menschen mit chronischen Schmerzen gibt. Das heißt: Etwas mehr als jeder vierte in Deutschland Lebende ist durch Schmerzen im Alltag zum Teil oder sogar stark eingeschränkt. Hilfe leisten hier die Ergotherapeuten, die in Klinik und Praxis an der verschiedene Methoden und Therapieformen kombinierenden multimodalen Schmerztherapie beteiligt sind.

„Ergotherapeut:innen sind Spezialist:innen für Betätigung und tragen maßgeblich dazu bei, dass Patient:innen mit chronischen Schmerzen eine Verbesserung in puncto Alltag, Schmerz und Lebensqualität erleben“, sagt Ergotherapeut Nico Sanning vom Deutschen Verband Ergotherapie (DEV). Dieses therapeutische Wissen sei wegweisend, gerade in Hinblick auf die bereits bekannte Unterversorgung von Schmerzpatienten und die sich abzeichnende Schließung weiterer schmerztherapeutischer Einrichtungen.

Schmerzen und die Flut an körperlichen und fremden Einflüssen

Schmerzen sind multifaktoriell, so der aktuelle Stand der Wissenschaft. „Das bedeutet, dass bei chronischen Schmerzen außer körperlichen Aspekten wie verletzte oder beteiligte Muskeln, Sehnen, Bänder, Knochen und so fort, weitere Faktoren, die im täglichen Leben eine Rolle spielen, einen Einfluss haben“, bestätigt der Ergotherapeut Sanning. Dies begründet, weshalb Ergotherapeuten von Anfang an an der Behandlung beteiligt sein sollen: Sie analysieren den Alltag Betroffener, um Faktoren zu reduzieren oder zu eliminieren, die eine Besserung verhindern oder die die Schmerzen verschlimmern.

Und: Ergotherapeuten können vor oder parallel zu Terminen in Schmerzambulanzen und bei Fachärzten und zusätzlich zu den üblichen Diagnose- und Behandlungsoptionen wie Röntgen, MRT, Spritzen oder Eingriffen direkt mit ihrer Intervention beginnen, da sie gegebenenfalls diagnoseunabhängig arbeiten und so schnell erste Verbesserungen herbeiführen können.

„Red flags“ bei Schmerzen: Wann soll man zum Arzt?

Bei chronischen Schmerzen denken viele zuerst an Rückenschmerzen und dort treten sie auch am häufigsten auf. Rückenschmerzen haben die ungewöhnliche Eigenschaft, oft ohne erkennbare Gründe von alleine wieder zu verschwinden. Bleiben Schmerzen, wo auch immer im Körper sie auftreten, länger bestehen, ist ein Arztbesuch ratsam. „Es ist auch dann sinnvoll, einen Arzt oder eine Ärztin aufzusuchen, wenn die Schmerzen das tägliche Leben einschränken und ebenfalls, wenn sie eine psychische Belastung darstellen“, betont Sanning. Ein Arztgespräch hat neben diagnostischen Erkenntnissen oft eine grundsätzlich beruhigende Wirkung, was sich positiv auf den Verlauf der Schmerzen auswirken kann.

Darüber hinaus weist der Ergotherapeut auf sogenannte „red flags“, als rote Flaggen als Warnsignal, hin. Das sind Symptome, die die Schmerzen begleiten wie etwa Lähmungserscheinungen, Inkontinenz und mehr. In solchen Fällen ist der Gang zum Arzt dringlich. „Dabei geht es vor allem um Klarheit“, sagt Sanning. Mit einem Arzt zu sprechen, kann zudem das Ziel haben, für die bessere Bewältigung des Alltags zu sorgen und eine Verordnung für Ergotherapie zu erhalten. Schmerzpatienten können ihren Alltag dank ergotherapeutischer Unterstützung so (um-)gestalten, dass ihnen die Dinge, die ihnen wichtig sind, oder die sie tun müssen, leichter gelingen. Dazu arbeiten Ergotherapeuten auf körperlicher ebenso wie auf mentaler Ebene mit ihnen.

Typisch für Ergotherapeuten: 360°-Blick auf Patienten

Ergotherapeuten, die sich wie Sanning auf das Thema Schmerzen spezialisiert haben, wenden häufig einen biopsychosozialen Ansatz an. „Das Biopsychosoziale Modell bezieht alles ein, sowohl die mechanischen als auch sämtliche weiteren körperlichen, psychischen und sozialen Faktoren“, erklärt Sanning. Die Idee dahinter ist, dass alles in einer Wechselbeziehung stehen kann und alles, was einen Menschen ausmacht, zu berücksichtigen ist. Das entspricht der üblichen ergotherapeutischen Betrachtungsweise, denn Ergotherapeuten berücksichtigen jede Stellschraube und beleuchten neben anderen Elementen auch die sozialen Rahmenbedingungen: Wie ist die Beziehung in und mit der Familie und wie am Arbeitsplatz? Welche kulturellen Aspekte liegen vor und wie ist der Lebensstil?

Diese und viele weitere Fragen, die die Entstehung und Aufrechterhaltung von chronischen Schmerzen beeinflussen, klären Ergotherapeuten üblicherweise anhand von Assessments. Assessments sind Fragen, Messungen oder Beobachtungen, die der Bewertung des Gesundheitszustands dienen. Um die Geschehnisse im Alltag ihrer Klienten bestmöglich analysieren zu können, erstellen Ergotherapeuten darüber hinaus gemeinsam mit ihren Klienten beispielsweise Tagesprofile, um herauszufinden, was tut der- oder diejenige von morgens bis abends, wie sehen die Wochentage und wie die Wochenenden aus und was unterscheidet die einzelnen Tage. Im Rahmen eines biopsychosozialen Ansatzes können alle Faktoren entscheidend sein.

„Ein weiterer Pluspunkt dieser Herangehensweise: Die Klient:innen kommen ins Reflektieren und merken meist selbst, was ihre förderlichen und was ihre störenden Faktoren sind“, berichtet der Ergotherapeut aus der täglichen Praxis und fährt fort: „Bei der Frage, was los ist in ihrem Alltag, kommen die Leute meist gut ins Reden und sprechen aus, was sie belastet und wie es in ihrem Leben aussieht.“ Für Ergotherapeuten gilt: Je mehr sie über ihre Patienten wissen, desto zielgerichteter wird die Intervention.

Ergotherapeutische Interventionen sind maßgeschneidert

„Das ganz große Ziel der Meisten ist Schmerzfreiheit“, gibt Sanning wieder, was auf der Wunschliste seiner Klienten ganz oben steht. Das gelingt auch hin und wieder, ist aber nicht bei allen von chronischen Schmerzen Betroffenen realisierbar. „Umso wichtiger“, findet der Ergotherapeut, „dass die Versorgung von Menschen mit chronischen Schmerzen zunächst breit aufgestellt ist.“ Im Lauf der Zeit kann es jedoch dazu kommen, dass Betroffene die Summe aller Termine und Therapien als belastend empfinden. Ergotherapeuten regen ihre Klienten in einer solchen Situation zum Reflektieren an: Jeder Patient kann nur für sich selbst feststellen, wovon er am meisten profitiert. Und in der Folge muss er mit den verschiedenen Therapeuten das Gespräch suchen, um gegebenenfalls nachzuschärfen, zu reduzieren oder zu verändern.

Denn auch das ist Teil einer ergotherapeutischen Intervention: Alle Aktivitäten und Verpflichtungen auf den Prüfstand stellen und sie gemeinsam mit den Klienten individuell betrachten. Sofern nötig, können die Betroffenen eliminieren, was zu viel ist und zu wenig bewirkt. Und dabei neue Zeitfenster schaffen. „Hobbys und das, was einfach nur Spaß macht oder der Entspannung dient, geht oft unter“, weiß Sanning. Eine gute Balance und Ausgewogenheit zwischen Pflichten und Erholung kann ein Schritt in die richtige Richtung sein. Damit das gut funktioniert, versetzen Ergotherapeuten Schmerzpatienten in die Lage, ihren Alltag immer wieder zu hinterfragen, bei Bedarf zu delegieren, sich zu fokussieren und Lösungen zu finden. Und ihre Ziele zu erreichen, von denen eines auch so lauten kann: Ein schönes Leben trotz Schmerzen.   pm

Info

Ergotherapeuten in Wohnortnähe findet man auf der DVE-Homepage. Zum Podcast geht es hier entlang.