
Magersucht ist eine schwerwiegende und immer häufiger auftretende psychische Erkrankung. Diese Krankheit geht in etwa 10 Prozent der Fälle tödlich aus, da viele Betroffene entweder an den Folgen ihrer radikalen Unterernährung sterben oder Suizid begehen. Foto: Igor Link/stock.adobe.com
Hilfe durch Ergotherapie: Magersucht ist die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterblichkeitsrate
Magersucht bedeutet nicht einfach nur sehr dünn zu sein. „Hinter den äußeren Symptomen schlank und schön sein zu wollen, verbergen sich andere, tieferliegende Ursachen“, betont Maja Schelewsky, Ergotherapeutin im Deutschen Verband Ergotherapie e.V. (DVE). Sie weiß, wovon sie spricht, war selbst betroffen, hat einen Ratgeber herausgegeben und ist Ergotherapeutin geworden. Einer der Gründe hierfür: Ergotherapeuten waren maßgeblich mit daran beteiligt, sie von ihrer Erkrankung zu heilen.
In diesem Vital-Region-Artikel zeigt Schelewsky auf, wie das auch bei anderen Patienten mit Magersucht gelingen kann und mithilfe welcher Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten es dem Umfeld möglich ist, Betroffenen frühzeitig zu helfen.
Deutlicher Anstieg der an Magersucht Erkrankten
Magersucht ist eine schwerwiegende und immer häufiger auftretende psychische Erkrankung. 2022 wurden in deutschen Krankenhäusern etwa 9800 Magersüchtige diagnostiziert – ein signifikanter Anstieg im Vergleich zu den Vorjahren. Dabei ist nicht nur bei einer Gewichtsabnahme die Rede von einer Essstörung, sondern auch dann, wenn die für einen gesunden Entwicklungsverlauf nötige Gewichtszunahme bei Kindern und Jugendlichen ausbleibt.
Was viele ebenfalls nicht wissen und was den wenigsten Betroffenen klar ist: Diese schwere psychische Erkrankung geht in etwa 10 Prozent der Fälle tödlich aus, da viele von Magersucht Betroffene entweder an den Folgen ihrer radikalen Unterernährung sterben oder Suizid begehen. „Expert:innen gehen von einer hohen Dunkelziffer aus“, berichtet Ergotherapeutin Schelewsky und schätzt, dass diese nicht erkannten, nicht behandelten und nicht gemeldeten Fälle langsam weniger werden: „Auch, weil die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen allmählich nachlässt.“
Magersucht vor allem in der Pubertät und bei Mädchen
Meist sind Jugendliche betroffen. „Die Erstmanifestation, also das erste Auftreten der Störung bei vormals gesunden Patient:innen, zeigt sich üblicherweise zwischen 15 und 19 Jahren“, erklärt Schelewsky. In dieser Lebens- und Selbstfindungsphase vergleichen sich die meisten Jugendlichen mit Gleichaltrigen. Das ist bis zu einem gewissen Grad normal. Allerdings können Prägung und Faktoren wie fehlende Resilienz zusammen mit äußeren Einflüssen wie etwa den westlichen Schönheitsidealen (Schlankheitswahn) dazu führen, dass eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper entsteht.
Gerade bei Mädchen ist die Veränderung naturgemäß oft sehr deutlich sichtbar – ihr Körper nimmt in der Pubertät Rundungen an, die nicht zu diesen Idealen passen. Jugendliche wollen jedoch Idealen und Normen entsprechen und so kann es durch das Zusammentreffen mehrerer ungünstiger Faktoren dazu kommen, dass sie sich als zu dick wahrnehmen. Laut einer Umfrage findet sich ein Fünftel aller Jugendlichen zu dick.
Eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper muss nicht zwangsläufig zur Krankheitsentstehung beitragen. Das Thema Magersucht sollten Eltern in dieser Zeit besonders gut im Blick haben, insbesondere, wenn bereits im Kindesalter ein abweichendes Essverhalten oder Essstörungen erkennbar waren.
Essstörungen schon bei Kindern zu beobachten
Aus Essstörungen im Kindesalter kann im späteren Alter eine Magersucht entstehen. Stellen Eltern also fest, dass ihr Kind oder Baby zu wenig isst oder andere Auffälligkeiten beim Essen entwickelt, ist der Gang zum Kinderarzt ratsam. Diese sollten feinfühlig schauen und, ohne das Kind zu verunsichern, abklären, was hinter dem Essverhalten steckt. Denn solche Störungen können auch körperliche Gründe haben und auf einer Erkrankung beruhen. Generell gilt: Je früher Störungen oder Erkrankungen erkannt werden, desto besser sind die Prognosen.
Handelt es sich tatsächlich um eine Essstörung und nicht um eine andere Erkrankung, sind Ergotherapeuten eine sehr gute Anlaufstelle: Sie arbeiten viel mit Kindern mit unterschiedlichen (Verhaltens-)Störungen und ihre Interventionen sind immer von einem sehr spielerischen Charakter geprägt – also absolut kindgerecht, was die Motivation der Kinder in die Therapie zu gehen und mitzumachen deutlich erhöht.
Beratung für Eltern und Kinder mit Magersucht
Es ist kaum vorstellbar, welches Leid Eltern durchleben, wenn sie zusehen müssen, wie sich ihr Kind allmählich das Leben weghungert. Sie fühlen sich meist hilf- und machtlos. Das sind sie jedoch nicht. Es ist allerdings unausweichlich, dass Außenstehende, also die Eltern selbst, Angehörige oder Freunde, aktiv werden. „Das Krankheitsbild ,Magersucht‘ lässt unbehandelt nur schwer eine Krankheitseinsicht zu – es kann schlimmer oder chronisch werden“, fordert Ergotherapeutin Schelewsky die Eltern und andere Außenstehende auf, etwas zu unternehmen. Am besten so früh als möglich. Doch wie kann das gehen, wenn Jugendliche gar nicht erkennen oder verstehen, dass sie Hilfe brauchen?
Die Ergotherapeutin empfiehlt: „Schlagen Sie einfühlsam aber bestimmt vor, Termine zu initiieren und bieten Sie an, mitzukommen.“ Außer der Anlaufstelle Arzt und Ärztin gibt es Beratungsstellen für Essstörungen, die wiederum sehr gut vernetzt sind und weitere Tipps und Ratschläge für das weitere Vorgehen anbieten. Auch sind Selbsthilfegruppen jederzeit eine sinnvolle Möglichkeit der Unterstützung für Menschen mit Magersucht und gegebenenfalls ihre Angehörigen. Weitere, wegweisende Informationen stellt das Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit, BIÖG zur Verfügung. Schelewsky rät Eltern zudem, sich bereits zu einem frühen Zeitpunkt um einen Psychotherapieplatz zu kümmern, da es lange Wartelisten gibt.
Ergotherapeuten überbrücken Wartezeit
Bis die Therapie in einer Klinik beginnt, können Ergotherapeuten die Zeit mit entsprechenden Interventionen überbrücken. In der Klinik gehören Ergotherapeuten zunehmend zu den interdisziplinären Teams, die sich um Patienten mit Magersucht kümmern. Um mit diesen arbeiten zu können, sorgen Ergotherapeuten als Erstes dafür, dass eine Vertrauensbasis entsteht und sich die Betroffenen anfangen zu öffnen. Oft sind die Jungen und Mädchen mit Magersucht eher verschlossen, denken, Ärzte und Therapeuten seien gegen sie. Sie trauen sich häufig nicht etwas zu sagen, in der Annahme sowieso nicht verstanden zu werden.
Ergotherapeuten wissen, dass dies Teil des Krankheitsbildes ist und wenden in solchen Situationen beispielsweise ausdruckszentrierte Methoden an. Solche kreativen oder gestalterischen Techniken können eine regelrechte Eisbrecherfunktion haben. Es können Bilder oder andere Werkstücke entstehen, die mehr als viele Worte über den Seelenzustand der Person mit Magersucht sagen. Die Resultate dieser Arbeit sind zudem eine gute Ausgangsbasis für die weitere Reflexion und den Austausch mit dem Ergotherapeuten. Darüber hinaus stellen sie später, also rückblickend, eine gute Vergleichsmöglichkeit dar, welche Veränderungen eingetreten sind.
Ergotherapeuten stärken Kind und Eltern-Kind-Beziehung
Ebenso wirkungsvoll sind sogenannte expositionsbasierte Techniken, bei denen die Jugendlichen mit Magersucht stufenweise mit ihren Ängsten sowohl was die Ernährung als auch das Körperbild angeht, konfrontiert werden. Hierzu zählen unter anderem Einkaufs- und Kochtrainings. Schelewsky erläutert ein Beispiel: „Betroffene dürfen auf ein körpergroßes Papier ihre Körperumrisse zeichnen, so wie sie sie einschätzen. Anschließend legen sie sich auf diese Zeichnung und der Ergotherapeut zeichnet den Umriss des echten Körpers nach.“ Mithilfe solcher und weiterer Verfahren wird denjenigen mit Magersucht deutlich und bewusst, wie verzerrt ihre Wahrnehmung des eigenen Körpers ist. Eine wichtige Voraussetzung, um die Krankheitseinsicht zu steigern und die Therapiemotivation positiv zu beeinflussen.
Flankierend spielt auch das Thema Edukation, also Krankheitsaufklärung, eine wichtige Rolle. Den Menschen mit Magersucht kann durch das sachliche Näherbringen ihrer Störung allmählich klarwerden, in welche (Lebens-)Gefahr sie sich begeben. Die Angehörigen erfahren, wie wichtig und erfolgsunterstützend es ist, Essen und Essverhalten nicht ständig zu thematisieren oder zu kommentieren, sondern die Mahlzeiten entspannter zu gestalten. Darüber hinaus lernen sie, besser zwischen der Krankheit Magersucht und dem, was den betroffenen Menschen ausmacht, zu differenzieren. Diese maßgeblichen Erkenntnisse tragen auch dazu bei, die Eltern-Kind-Beziehung zu stärken, die durch die Magersucht einer hohen Belastung ausgesetzt ist.
Info
Informationsmaterial zu den vielfältigen Themen der Ergotherapie gibt es bei den Ergotherapeuten vor Ort; Ergotherapeuten in Wohnortnähe findet man auf der Homepage des Verbandes. pm