Die Gesundheitsversorgung bietet Raum für Rassismus, weil dort die asymmetrischen Machtverhältnisse besonders deutlich werden. Das Gesundheitssystem wird nämlich meist von Menschen aufgesucht, die krank, schwach und auf Hilfe angewiesen sind. Foto: melita/stock.adobe.com
„Gesundheit ist ein Menschenrecht“: Rassismus in der medizinischen Versorgung
Wie stark ist Rassismus im Gesundheitswesen verbreitet und was lässt sich dagegen tun? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Nationale Diskriminierungs- und Rassismusmonitor, der jetzt einen ersten Studienbericht vorgelegt hat. Auf Vital-Region lesen Sie ein Interview von Pharma-Fakten mit zwei Wissenschaftlern, die an diesen Studien beteiligt waren.
Tanja Gangarova
ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDiRa) tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte: Kritische Migrations- und Rassismusforschung, Rassismus und Gesundheit, Community-basierte partizipative Forschung (CBPR).
Hans Vogt
ist Soziologe und arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter des NaDiRa zu Rassismus und institutionellen Prozessen. Er führte eine Studie zu Rassismus in der ärztlichen Ausbildung mit Bezug auf Lehrmaterialien und die Perspektiven von rassistisch markierten Medizinstudierenden und Ärzten durch.
Was ist der Nationale Diskriminierungs- und Rassismusmonitor?
Tanja Gangarova: In den Jahren zwischen 2000 und 2020 gab es in Deutschland eine ganze Reihe von rassistisch und antisemitisch motivierten Morden – dazu zählen die NSU-Morde, die Anschläge in Halle und Hanau, der Mord an Walter Lübcke in der Nähe von Kassel. Hinzu kommt die Tötung von George Floyd in den USA, die auch hierzulande eine breite Protestbewegung gegen rassistische Gewalt ausgelöst hat.
Vor diesem Hintergrund hat die damalige Bundesregierung 2020 einen Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus eingerichtet – dieser verabschiedete im November 2020 einen Maßnahmenkatalog, der unter anderem vorsah, die Rassismusforschung in Deutschland auszubauen. Dazu wurde am DeZIM, dem Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung, der Nationale Diskriminierungs- und Rassismusmonitor, kurz NaDiRa, eingerichtet – mit dem Ziel, Ursachen, Ausmaß und Folgen von Rassismus in Deutschland zu untersuchen und effektive Maßnahmen gegen Rassismus zu entwickeln.
Wie sieht das konkret aus?
Gangarova: Wir arbeiten multimethodisch und interdisziplinär. Zentrale Elemente sind repräsentative Umfragen, communitybasierte partizipative Studien, aber auch juristische und Medienanalysen.
Was sind die wichtigsten Ergebnisse des NaDiRa-Berichts zum Thema Rassismus und Gesundheit?
Hans Vogt: Kurz zusammengefasst: Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen sind weit verbreitet, auch im Gesundheitsbereich – und die Folgen können nicht nur den unmittelbar Betroffenen, sondern auch der Gesamtgesellschaft schaden.
Ist Rassismus im Gesundheitswesen stärker verbreitet als anderswo?
Gangarova: Schwierige Frage. Die deutsche Rassismusforschung steckt noch in den Kinderschuhen. Es gibt noch keine belastbaren Studien, die das Ausmaß von Rassismus in verschiedenen Lebensbereichen erfassen und vergleichen. Die Gesundheitsversorgung ist aber insofern spezifisch, weil dort die asymmetrischen Machtverhältnisse besonders deutlich werden. Das Gesundheitssystem wird meist dann aufgesucht, wenn Menschen krank sind, wenn sie auf Hilfe angewiesen sind. Medizinische Fachkräfte verfügen zudem über medizinische Ressourcen und professionelles Wissen, was sie in eine Machtposition gegenüber den Hilfesuchenden versetzt. Die Abhängigkeiten und Vulnerabilitäten, die dadurch entstehen, machen es für die Betroffenen besonders schwer, sich gegen rassistische Diskriminierung zu wehren.
Vogt: Rassismus ist nicht nur ein persönliches oder inter-personales Phänomen, sondern auch in gesellschaftlichen Strukturen angelegt – und damit auch in den Institutionen. Das Gesundheitswesen ist ein zentraler institutioneller Pfeiler der Gesellschaft. Das haben wir zuletzt in der Corona-Krise gesehen. Hier haben internationale Studien übrigens gezeigt: Insbesondere Geflüchtete und Migrant:innen waren in besonderem Maße von der Corona-Krise betroffen – wegen beengter Wohnbedingungen, schwierigen Lebens- und Arbeitsbedingungen, aber auch wegen einem erschwerten Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung.
Gangarova: Besonders schwer haben es Studienteilnehmende, bei denen einschränkende gesetzliche Rahmenbedingungen, wie Asylverfahren, gegeben sind. Als Asylsuchende ist ihre Gesundheitsversorgung abhängig vom Asylbewerberleistungsgesetz und dem Sozialamt, das als Behörde über die Vergabe von Behandlungsscheinen und damit über die Notwendigkeit einer medizinischen Behandlung entscheidet. Asylsuchende haben zudem zu Beginn ihres Verfahrens nicht den Luxus, beliebige Ärzte aufzusuchen, weil für sie eine Residenzpflicht gilt.
Wie zeigt sich Rassismus im Gesundheitswesen?
Gangarova: Das fängt bei alltäglichen Reaktionen oder Fragen an, die wir unter dem Begriff „Mikroaggressionen“ zusammenfassen: Das ärztliche Personal spricht lauter, rollt mit den Augen oder stellt Fragen ohne medizinischen Zusammenhang, etwa danach, wie lange jemand denn schon in Deutschland lebe. Das verunsichert und vermittelt die Botschaft, nicht dazuzugehören.
Es gibt auch bestimmte Bilder, die die Wahrnehmung von medizinischem Personal prägen. Schwarzen Frauen wird meist Hypersexualität zugeschrieben und sie werden nach einer HIV-Testung gefragt, obwohl sie gar nicht deswegen da sind. Muslimisch gelesenen Frauen wird dagegen eine unterdrückte Sexualität unterstellt. Eine muslimische Studienteilnehmerin berichtete, wie sie nach einer Untersuchung zu sexuell übertragbaren Erkrankungen gefragt hätte. Die Ärztin habe ihr geraten, sich keine großen Sorgen zu machen – denn das sei eher unwahrscheinlich bei Frauen aus ihrer Kultur. Es ist wichtig, auf Vorurteile wie diese in Aus- und Fortbildungen einzugehen.
Vogt: Rassismus beginnt schon bei der medizinischen Ausbildung: Dunkle Hauttypen kommen zum Beispiel in deutschen Lehrmaterialien so gut wie gar nicht vor. Auch bei der Terminvergabe zeigen sich rassistische Strukturen. Im NaDiRa wurde eine experimentelle Studie durchgeführt, bei der um Termine gebeten und dabei mal eher „deutsch“ und mal eher „ausländisch“ gelesene Namen verwendet wurden. Ergebnis: Bei Namen, die in Nigeria oder der Türkei verbreitet sind, gab es deutlich mehr Absagen.
Was verbirgt sich hinter Begriffen wie „Morbus Bosporus“ und „Mamma-mia-Syndrom“?
Vogt: Die Tatsache, dass Menschen und ihre Beschwerden nicht ernst genommen werden. Das drückt sich in der Umgangssprache des Personals aus: Pflegende und Ärzt:innen verwenden dann stereotypisierende oder abwertende Begriffe, die als Pseudo-Fachtermini regelrecht institutionalisiert sind. Das kommt immer wieder vor und kann die Behandlung stark beeinflussen – die Menschen bekommen also nicht die Behandlung, die sie eigentlich benötigen.
Welche Folgen haben rassistische Erfahrungen im Gesundheitswesen für Betroffene?
Gangarova: Die langen Wartezeiten, späte oder ausbleibende Terminvergaben, die Fehleinschätzung oder Leugnung von Beschwerden – das alles führt dazu, dass sich physische und psychische Gesundheit der Betroffenen auf Dauer verschlechtert. Die Menschen verlieren das Vertrauen in das Gesundheitssystem, was wiederum zur Folge hat, dass sie dazu tendieren, medizinische Behandlungen nur in schlimmsten Fällen wahrzunehmen. Auch das hat negative Auswirkungen auf ihre Gesundheit.
Wie kann man im Gesundheitswesen Rassismus vorbeugen?
Gangarova: Das Thema müsste in Fort- und Weiterbildungen für medizinisches Personal behandelt werden – und diese Weiterbildungen dürften nicht nur optional angeboten werden, sondern müssten von den Ärztekammern zertifiziert werden. Viele unserer Studienteilnehmenden wünschen sich zudem die Einrichtung von unabhängigen Beschwerdestellen – nicht im Krankenhaus, wo die rassistische Diskriminierung erfahren wurde, sondern bei Institutionen, zu denen Vertrauen besteht. Das können communitybasierte Beratungsstellen sein oder auch Selbsthilfe-Einrichtungen.
Gibt es auch politische Forderungen?
Gangarova: Ja. Dazu gehört zum Beispiel die bundesweite Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte für Asylsuchende, wie es sie in mehreren Bundesländern bereits gibt. Zudem sollte der eingeschränkte Zugang zu medizinischer Versorgung überprüft werden, der in den ersten 18 Monaten für Asylsuchende gilt – nach den Paragrafen 4 und 6 im Asylbewerberleistungsgesetz.
Wir plädieren für eine Anpassung der Leistungsansprüche an den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen, damit alle in Deutschland lebenden Menschen einen diskriminierungsfreien Zugang zur Gesundheitsversorgung bekommen. Das Recht auf Gesundheit ist ein Menschenrecht – und Deutschland hat eine Vielzahl internationaler Abkommen dazu unterschrieben. pharma-fakten.de