In Sachen Forschung gilt heutzutage: Medikamente, die für Männer und Frauen bestimmt sind, werden auch mit Männern und Frauen erprobt. Das verlangen die Zulassungsbehörden und das deutsche Gesetz. Aber: Vor verinnerlichten, stereotypen Rollenbilder sind auch Ärzte nicht gefeit. Darunter leiden vor allem Frauen auf vielfache Art, während Männer oft schneller und besser behandelt werden. Foto: Prostock-studio/stock.adobe.com
Gender Health Gap macht krank: Darum kommen Frauen mit Herzinfarkt viel später in die Notaufnahme
„Wäre Endometriose eine Männerkrankheit, wüsstet ihr genau, was das ist“, sagt Wissenschaftsjournalistin Dr. Mai Thi Nguyen-Kim. Stattdessen ist diese Unterleibserkrankung für viele Menschen eine große Unbekannte. Es ist ein Beispiel von vielen, das verdeutlicht, wie riesig das „Gender Health Gap“ noch immer ist. Die Folge dieser „Lücke“ in Medizin und Gesundheitswesen: Menschen, die nicht in das Raster von „männlich, weiß, cisgender“ passen, erhalten oftmals eine schlechtere gesundheitliche Versorgung.
Crash-Tests noch immer nicht auf Frauen fixiert
Lange Zeit schenkte die Menschheit den Unterschieden zwischen den biologischen Geschlechtern wenig Aufmerksamkeit. Frauen sind „kleine Männer“ – so lautete oftmals die Devise. Siehe Verkehrssicherheit: Zunächst kamen nur männliche Dummies in Crash-Tests zum Einsatz. Später kamen zwar teilweise Pseudo-Frauen-Dummies hinzu – sie waren jedoch lediglich kleiner und leichter, der Körperbau wurde nicht angepasst. Das hat Auswirkungen: Bis heute sind Frauen im Auto größeren Gefahren ausgesetzt als Männer – sie haben ein höheres Verletzungsrisiko, wie Pharma-Fakten.de berichtet.
Erst seit 2022 gibt es „Eva“ – ein erster weiblicher Dummy. Bislang müssen Fahrzeughersteller „Eva“ jedoch nicht einsetzen: Vorgeschrieben ist das weder in den USA noch in der EU.
Gender Health Gap noch immer Realität in der Medizin
Auch in der Medizin galt lange Zeit der „männliche Standard“. Eine Studie aus dem Jahr 2008 offenbarte, dass heterosexuelle, weiße, männliche Körper dreimal häufiger als weibliche Körper in medizinischen Lehrbüchern abgebildet waren, um geschlechtsunspezifische Körperteile darzustellen.
Hinzu kommt: Gebärfähige Frauen waren aufgrund einer Vorsichtsmaßnahme lange Zeit von vielen klinischen Arzneimittel-Studien ausgeschlossen. Die Erkenntnisse aus der Forschung mit männlichen Probanden wurden weitestgehend auf die weibliche Bevölkerung übertragen. Ein „Gender Data Gap“ ist die Konsequenz.
Heute ist klar, dass es unter anderem…
…Unterschiede bei der Art und Weise, wie bestimmte Stoffe (wie Medikamente) vom Körper verarbeitet werden, gibt.
…Unterschiede in Bezug auf die Häufigkeit von Erkrankungen gibt. Manche Leiden treffen zum Beispiel vor allem Frauen.
…dass es außerdem Unterschiede hinsichtlich der Symptome und des Schweregrads von Erkrankungen gibt.
Noch viele Lücken zu schließen
Trotz dieser Erkenntnisse gehört das „Gender Health Gap“ noch lange nicht der Vergangenheit an. Kein Wunder – es gibt extrem viele Lücken zu schließen:
- Bei der chronischen Herzinsuffizienz ist das Herz nicht mehr in der Lage, genügend Blut in den Kreislauf zu pumpen. Frauen erhalten die Diagnose sechsmal später als Männer. Sie werden doppelt so oft falsch diagnostiziert. Es fehlt das Bewusstsein dafür, dass sich die Krankheit bei ihnen anders äußern kann. Laut Kardiologin Dr. Martha Gulati werden Frauen zudem „tendenziell ‚untertherapiert‘ und oft nicht nach den Leitlinien behandelt, die erwiesenermaßen das beste Werkzeug sind, um diese lebensbedrohliche Erkrankung zu kontrollieren“.
- Bei Herzinfarkt gilt: Männer erleiden ihn häufiger, Frauen haben das größere Sterberisiko. Bei weiblichen Personen dauert es rund 1 Stunde länger, bis sie in die Notaufnahme kommen. Die „typischen“ Symptome wie stechender Brustschmerz treffen auf sie seltener zu. Bei ihnen können Übelkeit, Schweißausbrüche, Kurzatmigkeit im Vordergrund stehen – es sind Zeichen, die allzu oft verkannt werden.
- Medikamente wirken bei Frauen unter Umständen anders als bei Männern. Doch ohne Forschung, kein evidenzbasiertes Wissen: Weil Studien zeigten, dass der weibliche Körper ein bestimmtes Schlaf-Medikament langsamer abbaut, veranlasste die US-amerikanische Behörde FDA im Nachhinein für sie eine Dosis-Halbierung, um sie vor vermindertem Reaktionsvermögen zu schützen.
- Auch heute noch sind viele frauen-spezifische Gesundheitsprobleme nicht ausreichend bekannt. Stichwort: Endometriose – jede 10. Frau ist betroffen. Bei ihnen siedelt sich Gewebe, welches der Gebärmutterschleimhaut ähnelt, außerhalb der Gebärmutter an. Starke Schmerzen und verminderte Fruchtbarkeit können die Folge sein. Bis zur Diagnose dauert es im Schnitt 8 Jahre – unter anderem, weil die Symptome häufig nicht ernstgenommen bzw. als normale Menstruationsbeschwerden abgetan werden. In Bezug auf die Ursache der Krankheit gibt es viele Fragezeichen. „Um Endometriose heilen zu können, müssen wir sie besser verstehen“, fasst Wissenschaftsjournalistin Dr. Mai Thi Nguyen-Kim in ihrer ZDF-Sendung MAITHINK X zusammen. Die Bundesregierung hat 2022 beschlossen, die Erforschung der Krankheit stärker zu fördern.
Für mehr Gesundheitsgerechtigkeit
„Wir sind keine Welt bestehend aus Männern – so einfach ist das“, betont Nivi Thyagarajan von der „Women’s Leadership Initiative“ von GSK. In Sachen Forschung gilt heutzutage: „Medikamente, die für Männer und Frauen bestimmt sind, werden auch mit Männern und Frauen erprobt. Das verlangen die Zulassungsbehörden und das deutsche Gesetz“, erklärt der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa). „Wird ein Medikament hingegen nur mit einem Geschlecht untersucht, erhält es auch nur für dieses eine Zulassung.“
Außerdem gibt es seit Anfang 2022 eine EU-Verordnung, die verfügt, dass klinische Studien mit einer repräsentativen Geschlechter- und Altersverteilung durchgeführt werden müssen. Das heißt: Der Prozentsatz einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, welche die jeweilige Erkrankung tatsächlich hat, soll sich in den klinischen Studien widerspiegeln.
Mehr Diversität bringt bessere Gesundheitsergebnisse für alle
„Mehr Diversität bedeutet, dass wir sinnvolle Schritte in Richtung besserer Gesundheitsergebnisse für alle Menschen machen. Es ist ein Schritt in Richtung globaler Gesundheitsgerechtigkeit“, betont das forschende Pharmaunternehmen Pfizer. Schließlich geht es darum, dass „möglichst viele Menschen mit Erkrankungen“ von innovativen Behandlungen „profitieren, oder dass sie – im Fall von Impfstoffen – gar nicht erst krank werden.“ Viele pharmazeutische Firmen haben sich daher längst einem Mehr an Vielfalt in klinischen Studien verschrieben.
Und auch die Bundesregierung will laut Koalitionsvertrag „geschlechtsbezogene Unterschiede in der Versorgung, bei Gesundheitsförderung und Prävention und in der Forschung“ berücksichtigen und Gendermedizin zu einem Teil des Medizinstudiums sowie der Aus-, Fort- und Weiterbildungen der Gesundheitsberufe machen.
Gender Health Gap: Vorurteile bekämpfen
Doch das alles nützt nichts, wenn es nicht gelingt die Hürden abzubauen, die in den Köpfen von Menschen bestehen: Denn beim „Gender Health Gap“ geht es nicht nur um biologische Unterschiede zwischen biologischen Geschlechtern („sex“). Gesellschaftlich verankerte Vorurteile, die soziale Geschlechtsidentität („gender“) sowie soziale, ökonomische und ethnische Hintergründe können zusätzlich beeinflussen, welche Erfahrungen ein Mensch mit dem Gesundheitssystem macht.
„Frauen werden Schmerzen eher abgesprochen. Sie gelten häufig als ‚überempfindlich’, Schmerzen werden öfter fälschlicherweise als psychisch eingeordnet“, so Dr. Mai Thi Nguyen-Kim. Die Ursache: verinnerlichte, stereotype Rollenbilder – davor sind auch Ärzte nicht gefeit. „Entsprechend bekommen Frauen zum Beispiel seltener Schmerzmedikamente verschrieben“.
Eklatante Versorgungslücken erleben in Deutschland zudem Menschen, die sich nicht oder nur teilweise mit dem bei ihrer Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren. Das zeigt eine Studie der Deutschen Aidshilfe und des Robert Koch-Instituts zur sexuellen Gesundheit von trans und nicht-binären Personen. Medizinische Einrichtungen und Beratungsstellen sind demnach nicht ausreichend auf sie vorbereitet – die Betroffenen erfahren Unwissenheit und Diskriminierung. Letztlich können sie dadurch nicht von der Gesundheitsversorgung – Beratung, Tests, Behandlung – profitieren, die ihnen eigentlich zustände.