
Schule, Jugendamt und Gesundheitssystem sind oft mit jungen Systemsprengern überfordert. Ein Kernproblem der Kinder ist, dass sie kaum eine gesunde Bindung erlebt haben. Stattdessen immer wieder Bindungsabbrüche und Ablehnungen, etwa von Eltern, Pflegeeltern oder auch Therapeuten. Foto: Photographee.eu/stock.adobe.com
Wie vertrauensvolle Ergotherapie das lange Leiden von jungen Systemsprengern abfedern kann
Der Film „Systemsprenger“ aus dem Jahr 2019 hat den Namen für Kinder geprägt, die einen Leidensweg zum Beispiel zwischen wechselnden Pflegefamilien, Aufenthalten in der Psychiatrie und Heimen und erfolglosen Teilnahmen an Anti-Aggressions-Trainings durchlaufen. Aber: „Systemsprenger ist keine Diagnose oder eine Erkrankung – es ist ein Resultat: unser System hat keine Hilfe (mehr) für diese Kinder und Jugendlichen, es ist überfordert, ,gesprengt‘“, sagt Maren Bartenstein, Ergotherapeutin im DVE (Deutscher Verband Ergotherapie e.V.).
Auch wenn der Begriff dies impliziert: Systemsprenger sind nicht per se gefährlich, jedoch zeigen sie sich aufgrund der Belastungen, die sie haben, nach außen völlig unberechenbar und sind extrem herausfordernd. Bei ihnen trifft vieles zusammen, wie etwa familiäre, umwelt- und personenbezogene Faktoren und Schwierigkeiten. Die Ergotherapeutin Bartenstein hat viel Erfahrung mit solchen Kindern und beschreibt, wie es ihr und ähnlich arbeitenden Berufskollegen gelingen kann, zu manchem Systemsprenger einen Zugang zu finden, eine Vertrauensbasis zu schaffen und ihn oder sie für eine Intervention zu öffnen.
Schon im Kindergartenalter sind Störungen erkennbar
Im Nachhinein betrachtet sind es oft die Kinder, bei denen schon im Kindergartenalter zu beobachten war, dass sie nicht mit Frust umgehen können, keine ausreichende Impulssteuerung haben oder sich nicht an Regeln halten. Sie reagieren in bestimmten emotionalen Situationen körperlich, schlagen, beißen, treten andere Kinder. „Schlagen oder körperliche Auseinandersetzungen kommen auch bei anderen Kindern vor; die verstehen aber nach zwei, drei Mal, wie soziales Miteinander funktioniert“, erklärt die Bartenstein. Und: „Kinder, die zu Systemsprengern werden könnten, haben oftmals schon als Baby und Kleinkind viele Enttäuschungen und Bindungsabbrüche erlebt, die Eltern-Kind-Beziehung ist kritisch oder ist sozusagen nicht existent und vieles mehr.“
Mögliche Systemsprenger ändern ihr Verhalten nicht nach zwei oder drei Mal aggressiver Reaktion. Sie haben dieses Verhalten als ihre Überlebensstrategie für sich abgespeichert, um mit ihren Emotionen, mit Frustration, Anspannung und Impulsen umzugehen, weil sie es nicht anders erlernt haben. Es ist maßgeblich und für die weitere Entwicklung dieser Kinder wichtig, ihnen keine bewusste Absicht zu unterstellen, sondern zu erkennen, dass sie Hilfe benötigen.
Frühzeitig handeln: adäquate Hilfe von Ergotherapeuten erhalten
Beobachten Eltern, Angehörige, Freunde ein solches Verhalten wiederholt oder werden Kindergarten und Kita oder später die Schule hellhörig und verständigen daraufhin die Eltern, ist ein klärendes Gespräch mit Kinderarzt oder Kinderpsychiater ein vernünftiger Schritt. In berechtigten Fällen folgt beispielsweise eine Verordnung für Ergotherapie. Ergotherapeuten haben es bei ihrer Arbeit oftmals mit Kindern oder Jugendlichen zu tun, die soziale Interaktionsproblematiken zeigen oder schwache Leistungen aufweisen, die nicht dem IQ geschuldet sind, sondern einem Mangel an Strukturierung oder einem Mangel an Unterstützung durch das Elternhaus.
Darüber hinaus zeichnen sich Ergotherapeuten dadurch aus, dass ihre Interventionen in solchen Fällen spielerisch verlaufen, was eine wichtige Voraussetzung ist, um Kinder für die Zusammenarbeit zu gewinnen und zu begeistern. Es gilt, die Kinder und Jugendlichen da, wo sie sich gerade in ihrer Entwicklung befinden, altersgerecht abzuholen. Und Vertrauen aufzubauen. Eine gesunde Vertrauensbasis ist im Übrigen bei allen Menschen, also auch bei größeren Kindern oder Jugendlichen, die Voraussetzung für eine funktionierende und zielgerichtete Therapie.
Professionelle ergotherapeutische Haltung: nicht nachtragend sein
Maren Bartenstein, die als Ergotherapeutin in einem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) arbeitet, beschreibt einen Fall, der die Richtigkeit der ergotherapeutischen Herangehensweise untermauert. Es geht um einen Jungen, der bereits mit beginnendem Teenageralter die Schule komplett verweigerte, in den ersten Stunden die Ergotherapeutin beleidigte und mit Stühlen warf. „Die erste Handlung: Grenzen klar und eindeutig aufzeigen“, betont Bartenstein. Die Beleidigungen lässt sie an sich abprallen, wählt Humor als einen therapeutischen Ansatz, verweist den Jugendlichen wegen des Stühlewerfens des Raums und der Stunde. Aber: Sie begrüßt ihn bei den folgenden Terminen jedes Mal so freundlich wie beim ersten Mal – es ist alles auf Null zurückgestellt.
„Gerade Kinder und Jugendliche, die schon etliche Beziehungsabbrüche hinter sich haben und so weit abgedriftet sind, benötigen einen ,slow Start‘ in Beziehungs- und Bindungsaufbau“, verdeutlicht die Ergotherapeutin. Es sei für Therapeuten unabdingbare Haltung, diese Kinder und Jugendliche innerhalb der gesetzten Grenzen auszuhalten und nicht etwa beleidigt zu sein.
Systemsprenger haben eine Tiefengeschichte, Erfahrungen und Erlebnisse, aufgrund derer sie sich so verhalten. Sie sagt: „Als ehrliche und authentische erwachsene Person zeige ich klar die Grenzen; Konflikte werden geklärt. Danach gibt es einen Neustart und nicht etwa ein Nachtragen, nichts wird mit sich herumgeschleppt.“ Ein solches Verhalten ist, nebenbei bemerkt, generell für Eltern und auch für das Umfeld von Kindern und Jugendlichen durchaus sinnvoll.
Kinder und Jugendliche, die nicht mehr ins bestehende System passen
Ergotherapeuten kommen häufig mit Ansätzen wie handwerklichen oder künstlerischen Angeboten daher, die harmlos und banal erscheinen, aber tatsächlich eine große Wirkung haben. Es geht darum, dass Kinder und Jugendliche ihre Kompetenzen ausspielen, sich etwas zutrauen, etwas ausprobieren und sich selbstwirksam erleben. So auch im Fall des Jugendlichen, der die Schule verweigerte. „Nach den anfänglichen Rausschmissen ließ sich der Junge beim dritten oder vierten Treffen darauf ein, die Blumenkübel vor der Praxis zu bepflanzen und zwar mit einer Pflanze, die er sich aussuchen konnte“, beschreibt die Ergotherapeutin, wie sie das Interesse und die Mitarbeit des bereits als Systemsprenger abgestempelten Jugendlichen wecken konnte.
Beim Pflanzen, Gießen und Kümmern gab er mit der Zeit so ganz nebenher mehr und mehr von sich preis. Das Eis war gebrochen, ein vorsichtiger Zugang zu den Schwierigkeiten des jugendlichen Systemsprengers möglich. Wie konnte das gelingen? „Der Fokus lag auf einer Aktivität, bei der sich der Junge selbstwirksam erleben konnte. Er hat etwas erschaffen und das auch jedem, der auf der Straße vorbeikam, erzählt“, veranschaulicht die Ergotherapeutin diesen Wirkmechanismus.
Die Möglichkeit, mit anderen positiv ins Gespräch zu kommen, ein Dankeschön für die eigene Arbeit zu erhalten, stolz auf die eigene Leistung zu sein – das alles baut Selbstwertgefühl und Selbstsicherheit auf. Ganz maßgeblich ist dabei, dass die Aktivität in jedem Fall erfolgreich verläuft und das obliegt der Verantwortung des Ergotherapeuten.
Lernen, zwischenmenschliche Beziehungen zu gestalten
Mit Rückschlägen oder Misserfolgen umzugehen, lernen Systemsprenger erst in einem sehr viel späteren Stadium der Intervention; auch dann ist wieder sehr behutsames und besonnenes Vorgehen seitens der Ergotherapeuten angesagt. Zunächst ist das Ziel, eine vernünftige Ausgangsbasis von Vertrauen und Selbstwert zu schaffen. Ergotherapeuten legen ein besonders achtsames Verhalten an den Tag, wenn sie mit derart belasteten Kindern wie Systemsprengern arbeiten: Wenn Situationen zu kippen drohen, lassen sie diese Kinder oder Jugendlichen beispielsweise eine Bewegungseinheit oder eine Traumreise machen, etwas spielen oder meditieren. Von solchen Strategien profitieren die Kinder und Jugendlichen auch in Zukunft. Der Lerneffekt ist klar. Im Lauf der Zeit stabilisieren sich die meisten Kinder und Jugendlichen; sie öffnen sich.
Erst dann können Ergotherapeuten vorsichtig anfangen, die Schwierigkeiten zu thematisieren. Dabei gilt immer zu bedenken, dass ein Kernproblem bei Systemsprengern ist, dass sie kaum eine gesunde Bindung erlebt haben. Stattdessen immer wieder Bindungsabbrüche, weil diejenigen, die nicht mit ihrem Verhalten zurechtkommen, diese Kinder aus Überforderung oder Hilflosigkeit ablehnen, abweisen oder sogar verwahrlosen lassen. Oder, zum Beispiel im Fall von (Pflege-)Eltern oder Therapeuten, die Kinder zurückschicken und den Kontakt abbrechen.
Schon früh bei Verhaltensauffälligkeiten einschreiten
Das ist ein regelrechter Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt. Am besten in einem frühen Stadium, wenn noch nicht die Rede von Systemsprengern, sondern von Verhaltensauffälligkeiten ist. Und bevor die Schule nicht mehr helfen kann, das Jugendamt ebenso wie das Gesundheitssystem von diesen hoch therapiebedürftigen Kindern und Jugendlichen überfordert werden. Zu einem frühen Zeitpunkt spielt vor allem das Umfeld eine Rolle.
Wer mitbekommt, dass im Freundes- oder Bekanntenkreis, in der Verwandtschaft, Nachbarschaft wo auch immer eine Problematik besteht, die zur Kindswohlgefährdung werden könnte, hat eine Verantwortung. Und zwar an erster Stelle gegenüber dem Kind. „Es gibt immer die Möglichkeit, überforderten Eltern Unterstützung – auch bei der Suche nach professioneller Hilfe von außen – anzubieten“, bittet die Ergotherapeutin jeden Einzelnen, Sie macht außerdem klar: „Wird das Angebot ausgeschlagen, muss Plan B her, und der heißt: das Jugendamt informieren.“ Hilfe für Eltern gibt es bei Erziehungs- und Familienberatungsstellen, kirchlichen oder caritativen Einrichtungen, beim Jugendamt und bei medizinischen Versorgungszentrenten oder sozialpädiatrischen Zentren. pm