
„Ein gesundes Kind wird eher zu einem gesunden Jugendlichen, zu einem gesunden Erwachsenen und zu einem gesunden Senior heranwachsen“, sagt Dr. Hans Henri P. Kluge, Regionaldirektor der WHO Europa. Doch seit der Corona-Pandemie sinkt die durchschnittliche Lebenswerwartung der Europäer. Foto: stokkete/stock.adobe.com
Lebenserwartung sinkt weiter: Ist Europa auf dem Weg in eine Gesundheitskrise?
Ein Baby, das 2021 in Europa geboren ist, hat statistisch gesehen eine Lebenserwartung von 79,3 Jahren – wenn es ein Mädchen ist. Bei Jungen sind es 73,3 Jahre. Das war schon mal besser: Die COVID-19-Pandemie hat eine „Dekade des Fortschritts“ rückgängig gemacht, schreibt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in einem Bericht.
Wie sehr Impfmüde und Impfgegner vermeidbare Krankheiten fördern, sieht man zum Beispiel bei den Masern, deren Fallzahlen sprunghaft angestiegen sind. Und auch in weiteren Bereichen – etwa beim Kampf gegen chronische Erkrankungen – sehen Fachleute Handlungsbedarf, wie Pharma-Fakten.de berichtet.
Lange nahm die Lebenserwartung stetig zu, jetzt geht es abwärts
Von 2009 bis 2019 nahm die Lebenserwartung in der europäischen Region der WHO stetig zu – doch die Pandemie änderte das: Die Lebenserwartung bei Geburt sank von 2019 auf 2021 von 81,1 Jahre auf 79,3 Jahre (Frauen) beziehungsweise von 75,0 Jahre auf 73,3 Jahre (Männer). Deutschland liegt darüber (82,9 Jahre/78,2 Jahre) – und ist doch nur oberes europäisches Mittelfeld. Auch die Zeit, die die Menschen in voller Gesundheit vollbringen, ist laut dem „European health report 2024“ des Regionalbüros Europa der WHO gesunken. 2021 waren es 67,3 Jahre für die weibliche und 64,6 Jahre für die männliche Bevölkerung.
Den aktuellen Status Quo allein COVID-19 zuzuschreiben genügt wohl nicht: Zum einen sind die Unterschiede von Land zu Land groß – der Ort, an dem ein Mensch wohnt, entscheidet darüber mit, wie alt er werden kann und wie gesund er ist. Zum anderen muss die WHO in ihrem Bericht feststellen, dass es weitere Bereiche der öffentlichen Gesundheit gibt, in denen zuletzt Rückschritte, Stagnation oder unzureichende Fortschritte zu verzeichnen waren. Untersucht haben die Fachleute 53 Länder in Europa, einschließlich Russland und Zentralasien.

Kinder besser schützen
Jedes Jahr sterben demnach noch immer fast 76.000 Kinder vor ihrem fünften Geburtstag. In 4 der untersuchten Länder nahm die Mortalität in dieser Altersgruppe zuletzt sogar zu – auf Zypern, in Rumänien, in der Ukraine sowie in Albanien. Und: Gibt es in San Marino 1,5 Todesfälle unter 5 Jahren auf 1000 Lebendgeburten, liegt diese Rate in Turkmenistan bei 40,4. „Diese Lücke zu schließen – das bleibt eine Herausforderung“, so die WHO. Das Tragische ist: In den meisten Fällen wären die zugrundeliegenden Todesursachen – wie Infekte der unteren Atemwege oder Komplikationen bei Frühgeburten – „vermeid- oder behandelbar“, heißt es in dem Bericht.
Die WHO nennt weitere Punkte, die ihr Sorge bereiten: „1 von 5 Heranwachsenden in der europäischen Region kämpft mit der mentalen Gesundheit.“ Suizid ist die häufigste Todesursache bei den 15- bis 29-Jährigen. Ein Zehntel der 13- bis 15-Jährigen konsumieren Tabak-Produkte, darunter E-Zigaretten. Und fast ein Drittel aller Schulkinder hat Übergewicht.
NCDs und Infektionen: Mehr Todesfälle verhindern
„Nichtübertragbare Erkrankungen (NCDs) kriegen noch immer nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdienen – obwohl sie für 90 Prozent aller Todesfälle in unserer Region verantwortlich sind“, sagt Dr. Hans Henri P. Kluge, Regionaldirektor der WHO Europa. Zwar habe es große Fortschritte gegeben: Mindestens 10 Ländern sei es gelungen, die vorzeitige Sterblichkeit durch die vier größten NCDs um 25 Prozent zu reduzieren. Doch über die gesamte europäische Region hinweg stirbt noch immer 1 von 6 Personen vor dem 70. Geburtstag an Herz-Kreislauf-Leiden, chronische Atemwegserkrankungen, Diabetes oder Krebs. Der Alkohol-Konsum ist der weltweit höchste. Rauchen bis 2025 um 30 Prozent reduzieren? Auch hier ist die Region nicht auf der Zielgeraden.
Und im Kampf gegen Infektionskrankheiten sind die Impfraten in zu vielen Fällen „suboptimal“. 2023 gab es 58.000 Masernfälle in 41 Ländern der WHO-Region Europa – ein 30-facher Anstieg zum Vorjahr.
Gesundheit auf lange Sicht
Dr. Kluge betrachtet Gesundheit aus einer langfristigen Perspektive: „Ein gesundes Kind wird eher zu einem gesunden Jugendlichen, zu einem gesunden Erwachsenen und zu einem gesunden Senior heranwachsen.“ Und das ist heute wichtiger denn je – „denn zum ersten Mal gibt es in der europäischen Region mehr Menschen über 65 als unter 15 Jahren.“ Die Gesundheit von Kindern zu schützen – das bringt Vorteile für das gesamte Leben, „während Kosten für die Gesellschaft eingespart werden“.
Der Bericht der WHO Europa soll Regierungen und Politikern klare Ansatzpunkte für das weitere Vorgehen aufzeigen, „zu einer Zeit, in der Megatrends – darunter gefährliche Desinformation, Fachkräftemangel, Bevölkerungsalterung und Klimakrise – die Gesundheit der Menschen so stark wie noch nie beeinflussen.“ pm/tok