Im Alter von 15 Monaten haben 88 Prozent der Kinder in Deutschland die dritte Impfdosis gegen Polio erhalten (Geburtsjahrgang 2019, s. RKI). Mindestens 95 Prozent werden angestrebt, damit die Bevölkerung ausreichend vor einer Infektion und den schlimmen Folgen einer Kinderlähmung geschützt ist. Foto: Kirill Gorlov/stock.adobe.com
Kinderlähmung: „Für unsere heutige Generation ist die Polio-Ausrottung in greifbarer Nähe“
„Vor einer Generation lähmte Polio hunderttausende Kinder pro Jahr. Viele Länder haben Polio inzwischen eliminiert“, schreibt Wissenschaftler Max Roser, Gründer und Leiter der Plattform „Our World in Data“. Noch ist diese gefährliche Infektionskrankheit nicht weltweit ausgerottet – doch möglich ist es. Da muss dann aber auch in Deutschland die Impfquote weiter steigen.
Gliedmaßen gelähmt, Sprechen, Schlucken und Atmen beeinträchtigt
„Wenn das Poliovirus einmal in das Nervensystem eingedrungen ist, kann es innerhalb weniger Stunden zu irreversiblen Lähmungen führen“, beschreibt Roser bei Our World in Data die Gefahr des Erregers. Der US-Amerikaner Kerry Jacobson war 7 Jahre alt, als bei ihm Poliomyelitis ausbrach – ihn traf es im Jahr 1952, einen Impfstoff gab es noch nicht. Er erkrankte an der bulbären Form – sie kann nicht nur Gliedmaßen lähmen, sondern auch das Sprechen, Schlucken und Atmen stark beeinträchtigen. Die Prognose: äußerst ungünstig – wie man in der Fachwelt sagt.
Mehrere Monate verbrachte er mit rund 30 weiteren infizierten Kindern in einem Raum eines Krankenhauses. Manche von ihnen waren zum Überleben auf „Eiserne Lungen“ angewiesen. Nur ihr Kopf schaute aus diesen riesigen Geräten, die eine maschinelle Beatmung ermöglichten, hervor. Jacobson hat überlebt – doch noch heute spürt er die Folgen. Auf einem Blog der Organisation „Rotary“ schreibt er von Problemen mit rechtem Bein und Hüfte – doch die größten Schwierigkeiten habe er beim „Schlucken, Atmen, Sprechen und Artikulieren“. Noch immer gibt es wenige Menschen wie den 78-jährigen US-Amerikaner Paul Alexander, die seit Jahrzehnten mit einer Eisernen Lunge leben, wie Pharma-Fakten.de berichtet.
Polio-Opfer nicht mehr in öffentlicher Wahrnehmung
Viele von den Überlebenden waren lange Zeit still, sagt Jacobson: „Früher war die Welt nicht freundlich gesinnt gegenüber Polio-Opfern und so hatten wir ein starkes Interesse daran, unsere Narben zu verstecken.“ Doch weil er sich Sorgen macht, dass die Krankheit zurückkehrt, hat er beschlossen, seine Geschichte zu teilen – und als Buch („Life Before Post-Polio Syndrome“) veröffentlicht. „In unserem Versuch normal zu sein, sind viele Polio-Überlebende aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden – und so dienen sie nicht mehr als Erinnerung an die anhaltende Gefahr, die von Polio ausgeht.“
Risiko der Rückkehr einer schrecklichen Erkrankung
Solange es Menschen gibt, die sich mit Polio anstecken, besteht weltweit das Risiko einer Rückkehr der Erkrankung. Laut der Global Polio Eradication Initiative ist das Virus noch in zwei Ländern endemisch – in Afghanistan und Pakistan. Außerdem gibt es 35 „Ausbruchsländer“ – dort kommt es etwa durch importierte Fälle zu Infektionen. Acht Länder seien zudem besonders gefährdet, dass die Erkrankung künftig wieder auftritt, weil zum Beispiel die Bevölkerung eine zu niedrige Immunität aufweist.
Daher gilt auch für Europa: Es bleibt „sinnvoll, geimpft zu sein. Es sind unterschiedliche Polioimpfstoffe mit unterschiedlichen Impfstoffschemata für den deutschen Markt zugelassen“, informiert die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Doch in Deutschland wird davon zu wenig Gebrauch gemacht: Im Alter von 15 Monaten haben 88 Prozent der Kinder die dritte Dosis erhalten (Geburtsjahrgang 2019, s. RKI). Mindestens 95 Prozent werden angestrebt, damit die Bevölkerung ausreichend geschützt ist.
Impfkampagne: Polio massiv eingedämmt
Als 1955 ein erster Impfstoff gegen Polio entwickelt wurde, wurde das gefeiert. Max Roser zitiert aus einem Buch des Autors Richard Carter: „Menschen begingen Momente der Stille, ließen Glocken läuten und Hupen ertönen, […] feuerten Salutschüsse ab.“ Das Vakzin war „ein Sieg des Volks, ein Grund für Stolz und Jubel.“ Roser findet: „Die Feierlichkeiten waren nicht fehl am Platz“. Ein paar Jahre später kam ein weiterer (oraler) Impfstoff. „Die beiden Impfstoffe machten es möglich, die furchtbaren Epidemien der Vergangenheit zu beenden.“
Die Weltgemeinschaft ist weit gekommen. „Noch bis in die 1980er-Jahre wurden hunderttausende Menschen jedes Jahr weltweit durch das Virus gelähmt. Seitdem zeigten die Bemühungen gegen Polio in mehr und mehr Weltregionen Erfolg und die Ausbreitung des Virus wurde massiv eingedämmt“, so Roser. „Menschen auf der ganzen Welt – wir alle – haben zu diesem Welterfolg beigetragen“, betont er. 1980 war 1 von 5 Kleinkindern geimpft. Nun ist es andersherum: 1 von 5 ist nicht geimpft – 4 von 5 sind es. Die globale Impfquote liegt – nach Rückschlägen in Folge der COVID-19-Pandemie – bei 80 Prozent.
Chance der Ausrottung von Polio
Roser warnt: „Es von niedrigen Fallzahlen bis zur Ausrottung zu schaffen, ist hart.“ Doch unsere Generation habe die Chance, eines der erstrebenswertesten Ziele der Menschheit zu erreichen: Die globale Eradikation einer Erkrankung. Drei Dinge werden dabei eine entscheidende Rolle spielen: Impfstoffe, Hygiene (Zugang zu sauberem Wasser und Sanitäranlagen) und Daten zu Testungen, um jeden einzelnen Fall zu identifizieren und die Menschen in der Umgebung schützen zu können. „Lasst uns dieses globale Projekt nun zu einem Ende bringen und diese Erkrankung für alle Kinder weltweit und für die, die nach uns kommen, ausrotten“. Pharma-Fakten.de
Mehr Infos unter: https://ourworldindata.org/global-fight-polio