„Die Nachweise von Polio-Viren in Abwasserproben sind ein Weckruf für die Bedeutung eines vollständigen Impfschutzes gegen Kinderlähmung“, sagt der baden-württembergische Gesundheitsminister Manne Lucha. Foto: Peter Hansen/stock.adobe.com
Kehrt die Kinderlähmung zurück? RKI findet Polioviren im Abwasser – Impfstatus überprüfen
In dem als Frühwarnsystem eingesetzten Abwassermonitoring hat das Robert-Koch-Institut (RKI) erstmals das vom Schluckimpfstoff abgeleitete Polio-Virus in Deutschland nachgewiesen. Die Proben stammen aus München, Bonn, Köln und Hamburg. Bislang wurden in Deutschland keine Polio-Erkrankungen (Kinderlähmung) oder Verdachtsfälle gemeldet, wie das baden-württembergische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration erklärt.
Aufgrund insgesamt hoher Polio-Impfquoten und guter Hygienebedingungen in Deutschland ist die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Polio-Erkrankungen gering. Sofern Polio-Viren jedoch anhaltend zirkulieren, ist es nach Einschätzung des RKI möglich, dass vereinzelt Erkrankungsfälle unter ungeimpften oder nicht vollständig geimpften Personen auftreten.
Manne Lucha: Weckruf für Ungeimpfte
„Die Nachweise von Polio-Viren in Abwasserproben sind ein Weckruf für die Bedeutung eines vollständigen Impfschutzes gegen Kinderlähmung“, sagt Landesgesundheitsminister Manne Lucha. „In Baden-Württemberg bestehen teilweise erhebliche Lücken in Bezug auf die Impfung gegen Kinderlähmung. Insofern appelliere ich an alle Bürgerinnen und Bürger, den Impfschutz entsprechend den aktuellen STIKO-Empfehlungen zu überprüfen und bei Bedarf zu vervollständigen.“
In Baden-Württemberg wurden bislang keine Untersuchungen von Abwasserproben auf Polioviren durchgeführt. „Die Untersuchung von Abwasserproben aus einer Kläranlage in Baden-Württemberg wird ab sofort in das Untersuchungsprogramms des RKI aufgenommen“, ergänzte der Minister.
Vollständiger Impfschutz gibt Sicherheit
Poliomyelitis („Kinderlähmung“) ist eine hochansteckende Krankheit, die vor allem Kinder unter fünf Jahren betrifft und bei nicht ausreichend immunisierten Personen im schlimmsten Fall zu dauerhaften Lähmungen führen kann. Sie wird überwiegend mittels Schmierinfektion übertragen, in seltenen Fällen jedoch auch über Tröpfchen. Die Krankheit kann durch Polioimpfungen verhindert werden. „Gute Händehygiene kann daher die Ansteckung und Verbreitung von Polio-Viren reduzieren. Der beste Schutz vor Erkrankung bleibt jedoch weiterhin ein vollständiger Impfschutz. Die in Deutschland eingesetzte Impfung ist hochwirksam und sicher“, betonte Prof. Gottfried Roller, Leiter des Landesgesundheitsamtes.
So prüfen Sie Ihren Impfschutz
• Schauen Sie bitte in Ihren Impfausweis und überprüfen Sie, ob der eigene Impfstatus und der Ihrer Kinder vollständig ist. Was eine vollständige Polio-Impfung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene bedeutet, ist ausführlich auf der Web-Seite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) erläutert.
• Bei fehlender oder unvollständiger Polio-Impfung wenden Sie sich an Ihren Arzt.
• Achten Sie auf Händehygiene.
In Deutschland verwendeter IPV-Impfstoff ist sicher und effektiv
„Poliomyelitis („Kinderlähmung“) ist eine hochansteckende Krankheit, die vor allem Kinder unter fünf Jahren betrifft und bei nicht ausreichend immunisierten Personen im schlimmsten Fall zu dauerhaften Lähmungen führen kann. Sie wird vor allem fäkal-oral übertragen. Die Krankheit kann durch Polioimpfungen verhindert werden“, erklärt das RKI in einer Pressemitteilung.
Dort heißt es weiter: „Weltweit existieren zwei Arten von Polioimpfstoffen: eine Schluckimpfung, die abgeschwächte vermehrungsfähige Impfviren enthält (oral polio vaccine, OPV); und ein inaktivierter Polioimpfstoff (inactivated polio vaccine, IPV), der in den Muskel gespritzt wird. Die Schluckimpfung wird derzeit noch in manchen Ländern eingesetzt, aber nicht mehr in Deutschland. Die Schluckimpfung ist sehr effektiv, jedoch können die abgeschwächten Impfviren wieder ausgeschieden werden und sich genetisch so verändern, dass sie andere Menschen infizieren und eine symptomatische Erkrankung hervorrufen können (Schluckimpfstoff-abgeleitete Polioviren, vaccine-derived poliovirus, VDPV). In Deutschland wird daher seit 1998 ausschließlich IPV-Impfstoff verimpft. Menschen, die vollständig gegen Polio geimpft wurden, sind vor der Erkrankung geschützt. Der Impfstoff ist sicher und wirksam.“ pm/tok
Mehr RKI-Informationen zum Thema finden Sie hier.
Mehr RKI-Informationen zur Polio-Impfung finden Sie hier.
„Kinderlähmung ist grausam – Schluckimpfung ist süß“
Seit 1955 stehen eine von Jonas Salk entwickelte inaktivierte Polio-Vakzine, abgekürzt IPV, sowie seit 1960 eine von Albert Sabin entwickelte orale Polio-Vakzine, abgekürzt OPV, zur Verfügung. Mit beiden Impfstoffen gelang es, die Kinderlähmung seit den 1950er-Jahren weltweit drastisch zu reduzieren. Viele Ältere werden sich noch an den Slogan „Schluckimpfung ist süß – Kinderlähmung ist grausam“ erinnern. In Schulen und in anderen öffentlichen Einrichtungen hingen mehr oder minder drastische Plakate mit diesem Spruch. 1962 hatte Bayern als erstes Bundesland mit Schluckimpfungen gegen Kinderlähmung begonnen. Das geschah auch in Folge einer heftigen Polio-Epidemie, die zuvor die Bundesrepublik Deutschland getroffen hatte. Was heute kaum noch jemand weiß: Die DDR hatte dem Nachbarstaat im Westen Hilfe angeboten, da sich die Kinderlähmung im Osten Deutschlands bereits auf dem Rückzug befand. Doch Bundeskanzler Konrad Adenauer lehnte damals die drei Millionen Impfdosen aus sowjetischer Produktion ab.