Tier- und Humanmedizin profitieren voneinander: 2022 zeigte eine wissenschaftliche Studie, dass eine Kombinationstherapie bei Pferden mit Osteoarthritis auf Basis von Sildenafil (Viagra) so erfolgreich war, dass die Therapie nun auch für Menschen untersucht werden soll. Foto: Kirsten Davis/peopleimages.com/stock.adobe.com

Arzneimittelforschung: Was Human- und Tiermedizin verbindet

Beim forschenden Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim können sie beides: Die Entwicklung von Arzneimitteln sowohl für die Human- als auch für die Tiermedizin. Längst findet zwischen beiden Sparten ein Innovationstransfer statt, von denen beide Seiten – der Mensch und das Tier – profitieren.

Der One-Health-Ansatz ist längst in der Arzneimittelforschung angekommen, so berichtet Pharma-Fakten.de. So zeigt es auch ein Gespräch mit Betina Prestel und Professor Dr. Eric Haaksma über die Chancen, Human- und Tiergesundheit gemeinsam zu betrachten.

Gemeinsam sind sie das gelebte Geschäftsmodell der Pharmabranche. Betina Prestel, Geschäftsführerin bei Boehringer Ingelheim Vetmedica – der Tiergesundheitssparte des Pharmaunternehmens – ist dafür verantwortlich, dass es „läuft“. Denn wenn das Geschäft nicht läuft, hat Professor Dr. Eric Haaksma, der in dem Unternehmen die Forschung und Entwicklung leitet, weniger zu investieren. Das ist keine Einbahnstraße: Wenn seine Forschung nicht erfolgreich ist, hat sie nichts zu verkaufen. So läuft das bei pharmazeutischen Innovationen: Die Einnahmen von heute sind die Voraussetzungen für die neuartigen Therapien von morgen.  

Prestel und Haaksma haben gemeinsam, dass sie die meisten Jahre ihres Berufslebens in der Humanpharma-Sparte verbracht haben – ein Seitenwechsel. Warum macht man das?

Prof. Dr. Eric Haaksma: „Ich habe pharmazeutische Chemie studiert, aber letztlich begreife ich mich als Wissenschaftler. Mir war immer wichtig, die Grundlagen von Krankheiten zu durchdringen, weil wir sie nur dann gut behandeln können. Wir stehen vor der Herausforderung, krankmachende Prozesse zu verstehen. Es geht um die Frage: Wie kann ich eingreifen, um den gesunden Zustand wiederherzustellen? Ob ich das nun beim Menschen untersuche oder bei Katzen, Hühnern oder Hunden: Die Frage bleibt die gleiche.“

Es ist dieser „Krimi“ Wissenschaft, der den Niederländer fesselt. Und noch eines hat ihn daran gereizt, in die Welt der Tiermedizin zu wechseln:

Haaksma: „In der Humanmedizin arbeiten wir mit einer Spezies: dem Menschen. Aber in meinem Bereich haben wir Schwein, Pferd, Hund oder Rind – mit ihren unterschiedlichen Erkrankungen und entsprechend auch voneinander abweichenden Forschungsfragen.“

Betina Prestel: „Es sind im Grunde zwei Dimensionen: Wir haben einmal, wie Eric sagt, die verschiedenen Spezies. Und wir haben unterschiedliche Beziehungen im Bereich Nutz- und Haustiere. In dem einen Bereich sprechen wir vom Schutz ganzer Herden, von Tierseuchen, von Biosicherheit – und im anderen Bereich vom Tier als Familienmitglied, vom Partner und Freund, mit dem man sein Leben lebt.“

„Cross moves“ heißt bei Boehringer Ingelheim ein solcher Seitenwechsel, der auch ein Perspektivwechsel ist. Dahinter steckt die Chance, das Wissen aus anderen Bereichen übertragen und neue Akzente und Impulse setzen zu können. Bei allen Parallelen gibt es zwischen den beiden Sparten auch erhebliche Unterschiede; etwa, wenn man die Forschung und Entwicklung miteinander vergleicht.

Haaksma: „Die Investitionen, die für die Entwicklung von Arzneimitteln für Menschen zur Verfügung stehen, sind natürlich viel, viel mehr – nicht nur bei uns, sondern auch in der öffentlichen Forschung. In der Tiermedizin haben wir weniger Investitionen zur Verfügung, gleichzeitig aber die große Vielfalt unterschiedlichster Tiere. Das hat Konsequenzen: Das Detailwissen ist in der Veterinärmedizin viel geringer – wir wissen schlicht weniger über das, was Krankheiten bei den unterschiedlichsten Tieren auslöst.“

Unterschiede gibt es auch bei der Geschwindigkeit von Forschungsabläufen.

Haaksma: „Der Weg in der Humanmedizin ist lang. Bevor wir an Patienten testen, gehen wir durch einen extrem langen Prozess durch – was gut ist, denn es gibt uns Sicherheit. Der Weg eines Wirk- oder Impfstoffes in die Tierklinik ist dagegen kürzer.“

Und auch die Forschungsfragen ändern sich:

Haaksma: „Wir beobachten seit Jahren, wie sich die Beziehung von Menschen zu ihren Tieren ändert. Vereinfacht gesagt: Früher hatte ein Hund seinen Platz in einer Hütte vor der Tür, heute liegt er mit im Bett. Tiere sind Teil der Familie geworden und das verändert natürlich auch die Bereitschaft der Tierhalter, in die Gesundheit zu investieren. Aber nicht nur das: Wir sehen, dass auch bei Tieren die so genannten Wohlstandserkrankungen zunehmen. Mit dem Menschen bewegen sich auch die Tiere weniger, werden älter, werden verwöhnt, entwickeln Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes.“

Quellen: Health for Animals, World Health Organization (WHO), zoonosen.net/GRafik: Pharma-Fakten.de

Nur ein Beispiel: Die Katze. Eigentlich ist sie eine Jägerin, ist aber im Umfeld der Menschen in vielen Fällen zu einer Couchpotato mutiert.

Professor Haaksma sieht in der engeren Zusammenarbeit zwischen den beiden Bereichen Tiergesundheit und Humanmedizin große Chancen für eine gezieltere Entwicklung von Therapeutika, von denen Mensch und Tier profitieren.

Haaksma: „Nehmen wir die Onkologie mit ihren großen Fortschritten in den vergangenen Jahren. Die Kollegen in der Humansparte sagen am Anfang eines Projektes: Das ist unsere Zielstruktur, unser Target, das wir mit einem neuen Wirkstoff angreifen wollen. Dann schauen wir uns in der Tierforschung an, ob das hier auch funktioniert. Und dann laufen wir gemeinsam. Wir können mit denselben Tiermodellen arbeiten, aber wir in der Tiersparte können ja viel schneller die Patienten selbst, zum Beispiel den kranken Hund behandeln. Daraus können die Kollegen lernen, wenn sich eine Krankheit beim Menschen wie beim Tier ähnlich entwickelt. So könnte in Zukunft beispielsweise in der Tumorbehandlung bei Hunden vieles erreicht werden. Da wir schneller konkrete Daten liefern können, können wir damit gegebenenfalls den allgemeinen Erkenntnisprozess beschleunigen.“

Prestel: „Wir haben in der Tiergesundheit massiv aus dem Bereich Humanpharma profitieren können. Unser Angebot innovativer Produkte ist stark gewachsen – davon profitieren alle Tierhalter, Landwirte und auch die Hobbytierhalter.“

Innovationstransfer findet längst statt. Im Juni 2022 veröffentlichten schwedische Wissenschaftler Studienergebnisse, die zeigten, dass eine Kombinationstherapie bei Pferden mit Osteoarthritis auf Basis von Sildenafil, was weltweit unter anderem unter dem Markenname Viagra bekannt ist, so erfolgreich war, dass die Therapie nun auch für Menschen untersucht werden soll. Betina Prestel rechnet damit, dass sich der Transfer aus der Veterinärmedizin in den kommenden Jahren noch verstärken wird.

In der Regel funktioniert der Transfer aber – noch – in die andere Richtung.

Prestel: „Wir haben ein Medikament entwickelt, einen so genannten SGLT-2-Hemmer, der für Menschen mit Diabetes Typ 2, aber auch bei Herz- und chronischer Niereninsuffizienz hochwirksam ist. Auf der Basis dieser Forschung entstand ein Arzneimittel für Katzen mit Diabetes.“

Rund 75.000 Katzen sind allein in Deutschland davon betroffen – die Zahlen steigen schnell. Und auch hier gilt, was für humane Diabetiker wichtig ist: Eine frühe und gute Einstellung kann die teils lebensgefährlichen Folgen von Diabetes erfolgreich verhindern.

Prestel: „Wir setzen damit einen wichtigen Aspekt von One Health um, also dem ganzheitlichen Denken von der Gesundheit der Menschen, der Tiere und der Umwelt. Das ist ja eigentlich ein ganz einfaches, aber sehr relevantes Konzept, das jeder verinnerlichen sollte. Wir neigen dazu, in Silos zu denken, brauchen aber eine ganzheitliche Sicht. Spätestens seit Covid wissen wir, was alles passieren kann: Das Virus ist tierischen Ursprungs – das ist bei 75 Prozent der beim Menschen neu auftretenden Infektionskrankheiten so. Wir haben gelernt, dass wir Gesundheit vernetzter denken müssen. Ich glaube, die Tiergesundheit ist hier Vorreiter.“

Vernetztes Denken ist gefragt; alles ist miteinander verzahnt. Beide wissen: Die Welt ändert sich, Krankheiten entwickeln sich, breiten sich aus, neue entstehen. Die gesundheitlichen Herausforderungen werden in den kommenden Jahren eher zunehmen. Hinter dem One-Health-Gedanken steht die Erkenntnis, dass Menschen nur gesund sein können, wenn sie mit den Tieren, mit oder von denen sie leben, in einer halbwegs intakten Umwelt gesund leben können.

Der Schlüssel dazu? Forschung und die daraus resultierenden Innovationen. Und übergreifende Zusammenarbeit. Die Gesundheitsprobleme von heute und die von morgen wird die Menschheit nur über Innovationen in den Griff bekommen. Diese Forschung ist gleichzeitig die bestmögliche Vorbereitung auf eine nächste Pandemie.     pm