Wenn das Gehirn nicht mehr richtig rund läuft: Jährlich erkranken etwa 400.000 Menschen neu an einer Demenz. Ungefähr 60 Prozent davon haben eine Demenz vom Typ Alzheimer. Foto: Berit Kessler/stock.adobe.com
80 Prozent der Menschen weltweit halten Demenz fälschlicherweise für einen normalen Teil des Alterns
Traurig, unverständlich, aber real: Die Ergebnisse der weltweit größten Umfrage über die Einstellung zu Demenz zeigen, dass die Stigmatisierung der Krankheit in der Öffentlichkeit und sogar bei den Angehörigen der Gesundheitsberufe zunimmt. Im Vorfeld zum Welt-Alzheimertag hat der internationale Dachverband Alzheimer‘s Disease International (ADI) den Welt-Alzheimer-Bericht 2024 „Global changes in attitudes to dementia 2024“ veröffentlicht.
An dieser Umfrage nahmen 40.000 Personen aus 166 Ländern teil. Die Ergebnisse des ADI-Reports „Globale Veränderungen in der Einstellung zu Demenz 2024“ zeigen:
• Weltweit halten 80 Prozent der Öffentlichkeit Demenz für einen normalen Teil des Alterns und nicht für eine Erkrankung – dies ist ein dramatischer Anstieg im Vergleich zu 66 Prozent im Jahr 2019.
• Auch 65 Prozent der Fachkräfte im Gesundheits- und Pflegebereich glauben fälschlicherweise, dass Demenz ein normaler Teil des Alterns ist, gegenüber 62 Prozent im Jahr 2019.
• 88 Prozent der Menschen, die mit Demenz leben, geben an, Diskriminierung zu erfahren, gegenüber 83 Prozent im Jahr 2019.
• 31 Prozent der Menschen mit Demenz meiden soziale Situationen, weil sie sich Sorgen über die Reaktionen anderer machen, und 47 Prozent der pflegenden Angehörigen nehmen keine Einladungen mehr an, Familie und Freunde zu besuchen.
• Allerdings fühlen sich die meisten Befragten zuversichtlicher, Demenzstigmatisierung und -diskriminierung in der Öffentlichkeit zu bekämpfen als 2019, insbesondere in Ländern mit hohem Einkommen (64 Prozent).
1,8 Millionen Deutsche mit Demenz-Erkrankung
In Deutschland leben heute etwa 1,8 Millionen Menschen mit Demenzerkrankungen. Rund zwei Drittel davon werden in der häuslichen Umgebung von Angehörigen betreut und gepflegt. Jährlich erkranken etwa 400.000 Menschen neu. Ungefähr 60 Prozent davon haben eine Demenz vom Typ Alzheimer. Die Zahl der Demenzerkrankten wird bis 2050 auf 2,4 bis 2,8 Millionen steigen, sofern kein Durchbruch in Prävention und Therapie gelingt.
Der Welt-Alzheimer-Bericht 2024 wurde von einer Umfrage untermauert, die von der London School of Economics and Political Science (LSE) ausgewertet wurde. Demnach glauben schockierende 80 Prozent der Öffentlichkeit immer noch fälschlicherweise, dass Demenz ein normaler Teil des Alterns und keine Krankheit ist – ein Anstieg um 14 Prozent seit der letzten Umfrage im Jahr 2019. „Diese ungenaue Sichtweise von Demenz gibt Anlass zu großer Sorge, insbesondere bei den Angehörigen der Gesundheitsberufe, da sie die Diagnose und den Zugang zur richtigen Behandlung, Pflege und Unterstützung verzögern kann“, sagt ADI-Geschäftsführerin Paola Barbarino. Dies geschehe zu einer Zeit, in der weltweit neue Behandlungen zugelassen und Durchbrüche in der Diagnostik erzielt werden.
Ihre Forderung: „Wir müssen dafür sorgen, dass die Angehörigen der Gesundheitsberufe besser verstehen, dass Demenz ein medizinischer Zustand ist, der durch eine Reihe von Krankheiten verursacht wird, von denen Alzheimer die häufigste ist. Dies ist notwendig, damit eine korrekte Diagnose gestellt werden kann, die die Tür für eine Kombination von Behandlungen, Pflege und Unterstützung öffnet, die es den Menschen ermöglicht, länger gut zu leben, weiterzuarbeiten, zu Hause zu leben und Teil der Gemeinschaft zu bleiben.“
88 Prozent der Menschen, die mit Demenz leben, gaben an, dass sie Stigmatisierung erfahren haben, ein Anstieg von 5 Prozent seit 2019.
Stigmatisierung führt zu Unverständnis und Isolation
ADI sagt, dass die immer noch bestehenden falschen Vorstellungen über Demenz die Stigmatisierung von Menschen, die an dieser Krankheit leiden, aufrechterhalten. Emily Ong, eine Person, die mit Demenz lebt, hat dies aus erster Hand erfahren. Sie sagt, dass ihre Bedürfnisse während des gesamten Weges der Diagnosestellung und Behandlung nicht als wichtig angesehen wurden. „Ich musste Dinge beweisen und wiederholt um Unterstützung bitten, bevor etwas unternommen wurde“, sagt sie.
Dieses Gefühl findet sich auch in dem Bericht wieder, der 24 Beiträge von Experten aus der ganzen Welt zu übergreifenden Themen im Zusammenhang mit der Einstellung zu Demenz sowie Fallstudien über Stigmatisierung und Initiativen zu deren Bekämpfung enthält.
Demenz trifft auch Jüngere
Für Bruder John-Richard Pagan, einen der Autoren des Berichts, der selbst an einer Lewy-Körper-Demenz erkrankt ist, bestand die größte Herausforderung darin, die Menschen dazu zu bringen, ihm zu glauben, wenn er sagte, dass es ein Problem gebe. „Diskriminierung aufgrund des Alters ist weit verbreitet… Die Leute gehen davon aus, dass man, wenn man unter 65 Jahre alt ist, auf keinen Fall Probleme mit kognitiven Beeinträchtigungen haben kann. Sie nehmen dich einfach nicht ernst.“
Auch Natalie Ive, die ebenfalls einen Beitrag für den Welt-Alzheimer-Bericht 2024 geschrieben hat, wurde gesagt, sie „sehe nicht aus, als hätte sie Demenz“, weil bei ihr im Alter von 47 Jahren eine Demenz mit Beginn in jungem Alter diagnostiziert wurde.
Falsche oder zu späte Diagnose wegen Unwissenheit
Ong sagt, dass viele Angehörige der Gesundheitsberufe, die sie im Rahmen ihrer Tätigkeit als Anwältin kennengelernt hat, erklärt haben, dass sie nur eine sehr begrenzte medizinische Ausbildung zum Thema Demenz erhalten haben. Dies könnte dazu beigetragen haben, dass sie Demenz für einen normalen Teil des Alterungsprozesses halten. „Das Beunruhigendste daran ist, dass dies zu einer verzögerten, falschen oder übersehenen Diagnose führen kann“, sagt sie.
Aktionen zum Welt-Alzheimertag
Es gibt auch eine gute Nachricht. Saskia Weiß, Geschäftsführerin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V. Selbsthilfe Demenz (DAlzG), begrüßt den Anstieg der Zahl der Befragten, die sich 2024 sicherer fühlten, gegen die Stigmatisierung vorzugehen, als 2019. Sie betont aber auch, dass wir alle durch die Unterstützung der öffentlichen Wahrnehmung rund um den Welt-Alzheimertag etwas verändern können. „Es ist ermutigend zu sehen, dass immer mehr Menschen sich trauen, gegen die Stigmatisierung von Menschen mit Demenz vorzugehen. Dies zeigt, dass jede und jeder einzelne etwas bewirken kann.“
Rund um den Welt-Alzheimertag finden daher Veranstaltungen statt, um das Bewusstsein für Demenz und Alzheimer zu schärfen. Diese werden von den Alzheimer-Gesellschaften in ganz Deutschland organisiert.
Demenz durch ungesunden Lebensstil
Abgesehen davon, dass sich die Öffentlichkeit besser in der Lage fühlt, gegen Stigmatisierung vorzugehen, scheinen sich auch mehr Menschen der Auswirkungen ihres Lebensstils auf das Risiko, an einer Demenz zu erkranken, bewusst zu sein: Über 58 Prozent der Bevölkerung glauben, dass Demenz durch einen ungesunden Lebensstil verursacht wird. Da Berichten zufolge 45 Prozent der Demenzfälle durch nur 14 veränderbare Risikofaktoren beeinflusst werden, ist dies ein wichtiger Fortschritt.
Isolation trifft viele Demenz-Kranke schwer
Saskia Weiß weist darauf hin, dass sich Menschen mit Demenz aufgrund der zunehmenden Stigmatisierung immer mehr isolieren. „Die Ergebnisse der Umfrage zeigen, dass 31 Prozent der Betroffenen soziale Begegnungen meiden und 36 Prozent aus Angst vor Stigmatisierung keine Bewerbungen mehr schreiben. Ebenso besorgniserregend waren die Ergebnisse bei den pflegenden Angehörigen: 47 Prozent nahmen keine Einladungen mehr an, Freunde und Familie zu besuchen, und 43 Prozent luden niemanden mehr zu sich ein. Wir wissen, dass soziale Isolation ein Risikofaktor für die Entwicklung von Demenz ist, die Symptome verstärken und die psychische Gesundheit beeinträchtigen kann. Daher ist dies äußerst besorgniserregend.“
Barbarino kommt zu dem Schluss, dass eine Veränderung notwendig ist: „Ermutigend ist, dass in einem Jahr, in dem weltweit über 2 Milliarden Menschen wahlberechtigt sind, unsere Umfrage ergab, dass mehr als 80 Prozent der Öffentlichkeit glauben, dass sie durch ihre Stimme die Unterstützung für Menschen mit Demenz verändern können. Wir müssen die Menschen wachrütteln und eine Bewegung schaffen, um den politischen Entscheidungsträgern zu vermitteln, dass es jetzt an der Zeit ist, etwas gegen Demenz zu unternehmen.“ pm
Der Welt-Alzheimer-Report ist kostenlos online verfügbar unter: http://www.alzint.org/resource/world-alzheimer-report-2024/
Info
Alzheimer‘s Disease International (ADI) ist der internationale Zusammenschluss von 105 Alzheimer-Vereinigungen und -Verbänden in der ganzen Welt, die in offizieller Verbindung mit der Weltgesundheitsorganisation stehen. Die Vision der ADI ist Prävention, Pflege und Integration heute und Heilung morgen. ADI glaubt, dass der Schlüssel zum Erfolg im Kampf gegen Demenz in einer einzigartigen Kombination aus globalen Lösungen und lokalem Wissen liegt. ADI arbeitet auf lokaler Ebene, indem sie Alzheimer-Vereinigungen befähigt, Pflege und Unterstützung für Menschen mit Demenz und ihre Pflegepartner zu fördern und anzubieten, während sie sich auf globaler Ebene dafür einsetzt, die Aufmerksamkeit auf Demenz zu lenken und sich für politische Veränderungen einzusetzen. Mehr dazu unter http://www.alzint.org
Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft engagiert sich für ein besseres Leben mit Demenz. Sie unterstützt und berät Menschen mit Demenz und ihre Familien. Sie informiert die Öffentlichkeit über die Erkrankung und ist ein unabhängiger Ansprechpartner für Medien, Fachverbände und Forschung. In ihren Veröffentlichungen und in der Beratung bündelt sie das Erfahrungswissen der Angehörigen und das Expertenwissen aus Forschung und Praxis. Als Bundesverband von mehr als 130 Alzheimer-Gesellschaften unterstützt sie die Selbsthilfe vor Ort. Die DAlzG setzt sich ein für bessere Diagnose und Behandlung, mehr kompetente Beratung vor Ort, eine gute Betreuung und Pflege sowie eine demenzfreundliche Gesellschaft. Mehr dazu unter https://www.deutsche-alzheimer.de