Im Jahr 2027 könnten bereits 11 Millionen Menschen in Deutschland unter einer chronischen Nierenkrankheit, auch Niereninsuffizienz, leiden. Nur circa 10 % der Betroffenen sind diagnostiziert. Foto: Orawan/stock.adobe.com

Chronische Nierenkrankheit CKD: Verpasste Chancen im Umgang mit einer Volkskrankheit

Unter den Volkskrankheiten führt sie ein Schattendasein: Die chronische Nierenkrankheit (CKD), oft auch als Niereninsuffizienz bezeichnet. Geschätzte 9 Millionen Menschen leiden in Deutschland daran – wahrscheinlich sind es mehr. Die Behandlungsmöglichkeiten sind hervorragend, aber da kaum getestet wird, kommen diese bei den Menschen nicht an.

Ein Gespräch mit Dr. Michael Seewald, Medizinischer Direktor beim forschenden Pharmaunternehmen AstraZeneca, für Pharma-Fakten.de zeigt die verpassten Chancen in der Reaktion auf die Volkskrankheit CKD.

9 Millionen CKD-Betroffene, wahrscheinlich sind es mehr. Und gleichzeitig eine unterirdische Diagnoserate…

Dr. Michael Seewald: Ja, das ist eine dramatisch hohe Zahl, die auch ansteigt: Im Jahr 2027 könnten es bereits 11 Millionen sein. De facto sind nur circa 10 Prozent der betroffenen CKD-Patient:innen diagnostiziert.

Woran liegt das? Was sind die Hürden?

Seewald: CKD-Patient:innen haben erstmal kaum Symptome. Das ist eine dieser Erkrankungen, die zunächst sehr still und unauffällig ist – es gibt wenig, was einen alarmieren könnte. Wenn wir auf die Arztseite schauen, dann haben wir eigentlich ein relativ klares Bild davon, was ein Risikopatient, eine Risikopatientin ist – das sind Menschen mit Bluthochdruck, Diabetes, metabolischem Syndrom, Adipositas oder Raucher. Aber ich fürchte, dass aus der Vergangenheit die Meinung abgespeichert ist, dass man da sowieso nicht so viel tun kann. Die Idee, konkret auf eine Nierenkrankheit zu testen, kommt nicht, weil eine erfolgreiche Behandlung erst seit ein paar Jahren möglich ist.

Wie aufwändig ist das Testen auf CKD?

Seewald: Gar nicht. Mit der eGFR, einem Bluttest, können wir die Filtrationsrate der Nieren bestimmen; sprich: wir können sehen, wie leistungsstark sie sind. Mit der UACR, einem Urintest, messen wir die Eiweißmenge, die über die Nieren ausgeschieden wird. Bei gesunden Nieren liegt die quasi bei null. Die medizinischen Leitlinien empfehlen ein systematisches Testen der Risikogruppen. Die Realität sieht anders aus.

Nämlich?

Seewald: Es wird immerhin bei 46,5 Prozent der Risikopatient:innen die Filtrationsrate gemessen, aber weniger als 1 Prozent erhalten den Urintest. Das hat die Studie InspeCKD ergeben – und das ist ein Problem: Der Urintest auf das Eiweiß Albumin ist ein viel empfindlicheres Maß für eine Nierenschädigung; er ermöglicht daher eine Diagnose zu einem Zeitpunkt, wo uns die eGFR noch normale Werte liefern kann.

Das bedeutet: Ein klares Bild über den Zustand meiner Nieren habe ich nur mit beiden Tests?

Seewald: Genau. Und deshalb ist das ja so tragisch. Die eGFR kann sagen: Die Niere ist ok, obwohl mir der genauso günstige und schnelle Test auf die UACR zeigen würde, dass die Niere geschädigt ist. Eine klare Aussage bekomme ich nur mit beiden Tests.

Das führt automatisch zu Diagnosen, die spät kommen. Wie wichtig ist eine frühe Intervention bei CKD?

Seewald: Auch dazu haben wir eine Studie gemacht. Diese konnte zeigen, dass eine frühe Behandlung mit so genannten SGLT-2-Hemmern die Patient:innen lange vor der Dialyse bewahren kann. Damit kann es gelingen, den Zeitpunkt bis zur Blutwäsche um bis zu 13 Jahre hinaus zu zögern.

13 Jahre ist enorm.

Seewald: Ja. Die Dialyse schränkt Menschen sehr ein, die Lebensqualität leidet. Das können ja 13 Jahre im besten Alter sein. Hinzu kommt: Das ist der teuerste Abschnitt der Krankheit.

Können Sie das beziffern?

Seewald: Auch dazu gibt es Fakten: Die Kosten der Behandlung mit Dialyse steigen gegenüber der Behandlung im mittleren Stadium einer CKD um das 17-fache an. Die Gesundheitskosten liegen schon heute bei rund 9 Milliarden Euro im Jahr; nach der Prognose der InsideCKD-Studie werden es 2027 10 Milliarden Euro im Jahr sein. Davon macht allein die Dialyse mehr als die Hälfte der Kosten aus – und das, obwohl nur rund 5 Prozent der Patient:innen dialysepflichtig sind.

Halten wir fest: Mit 2 einfachen Tests kann man viele Millionen Menschen vor schweren gesundheitlichen Komplikationen schützen und dem System viele Milliarden Euro ersparen?

Seewald: Völlig richtig. Und das ist wahrlich kein Hexenwerk. Wir müssten nur 2 einfache Tests in den Versorgungsalltag integrieren und nach Diagnosestellung eine medikamentöse Therapie initiieren.

Wie kann das klappen?

Seewald: Kurz- und mittelfristig sprechen wir uns für die Aufnahme des UACR-Screenings in die Disease-Management-Programme für Risikogruppen wie chronische Herzinsuffizienz, koronare Herzkrankheit, Diabetes mellitus und Adipositas sowie des gesamten CKD-Screenings, also eGFR und UACR, in den geplanten Check-up 50 aus. Langfristig brauchen wir unserer Meinung nach ein Disease-Management-Programm für die chronische Nierenkrankheit. Für Diabetes gibt es so etwas; im DMP Diabetes werden 60 Prozent der Patient:innen erreicht. Das sind strukturierte Programme, die auf allen Ebenen sicherstellen, dass die Menschen nach dem aktuellen Stand der Forschung behandelt werden. Als Grundlage für ein DMP CKD bräuchte es dann auch eine Nationale Versorgungsleitlinie, die es für die CKD derzeit nicht gibt.

Wenn nun die Tests ergeben, dass eine CKD vorliegt: Was kann ich dann als Arzt tun?

Seewald: Jetzt kommen wir zu den SGLT-2-Hemmern, einer Wirkstoffklasse, die ursprünglich als Antidiabetikum entwickelt wurde und auch hier zum Einsatz kommt. Die Medikamente sind hochwirksam und sicher. Mittlerweile konnten sie in Studien zeigen, dass sie darüber hinaus kardioprotektiv wirken, also Herz und Nieren schützen. Man kann es nicht oft genug sagen: Ein frühes Screening, eine zeitnahe Diagnose und dann die Therapie mit einem SGLT-2-Hemmer ersparen den Menschen viel Leid und dem System viel Geld. Die Behandlungskosten mit einem SGLT-2-Hemmer liegen bei deutlich unter 2 Euro am Tag.

Der Bundesgesundheitsminister hat in seinen Empfehlungen für ein nachhaltig finanziertes Gesundheitssystem ein Gesetzesvorhaben zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen angekündigt – die Todesursache Nummer 1 in Deutschland. Wäre es nicht eine Idee, hier die chronische Nierenkrankheit gleich anzudocken?

Seewald: Das wäre sicher sinnvoll. Eine chronische Nierenkrankheit steht selten allein – sie kann sich beispielsweise aus einem Typ-2-Diabets, einem zu hohen Blutdruck oder anderen kardiovaskulären Erkrankungen entwickeln. Deswegen sollte man das strategisch angehen. Die Frage ist doch: Welches sind die Indikationen, die in Deutschland für eine besonders hohe Krankheitslast sorgen, teuer in der Behandlung bzw. in der Nicht-Behandlung sind, weil wir den medizinischen Möglichkeiten hinterlaufen? Da gehören aus meiner Sicht die Nieren unbedingt dazu – auch vor dem Hintergrund, dass in den Pipelines forschender Unternehmen einige neue Therapien getestet werden, das heißt, dass sich die Behandlung perspektivisch noch verbessern kann. Warum also nicht ein „Jahrzehnt der Niere“? Sie braucht dringend gesundheitspolitischen Rückenwind. Denn wir werden älter, die Erkrankungszahlen steigen und damit die Kosten. Nur so können wir eine der teuersten chronischen Erkrankungen gut behandeln. Pharma-Fakten.de