Ein positiver HIV-Test ist heutzutage kein Todesurteil mehr. Aids ist zwar noch nicht heilbar, aber so beherrschbar geworden, dass bei richtiger Therapie die Menschen keinen vorzeitigen Tod fürchten müssen. Foto: vchalup/stock.adobe.com
Ziel der UN: Bis 2030 soll HIV/Aids keine Gefahr mehr sein – Deutschland hinkt hinterher
Es sind noch 6,5 Jahre: Bis dahin soll HIV/Aids nach den Zielen der Vereinten Nationen beendet sein. Möglich wäre das. Das zeigt ein neuer Bericht der Organisation UNAIDS. Und auch Martin Flörkemeier, Senior Director Public Affairs von Gilead Sciences, einem führenden Entwickler von HIV-Arzneimitteln, weiß, dass das klappen kann: Denn alle Instrumente sind vorhanden.
Im Gespräch mit pharma-fakten.de erläutert Flörkemeier, was in Deutschland noch getan werden muss, um das ehrgeizige Ziel der UN zu erreichen.
UNAIDS-Report: Deutschland hinkt hinterher
Langsam wird die Zeit knapp: Das 2030er-Ziel von UNAIDS rückt näher – doch durch die COVID-19-Pandemie wurden in vielen Regionen der Welt die Fortschritte bei der Bekämpfung der Immunschwächekrankheit zurückgeworfen oder zumindest ausgebremst. Das HI-Virus hat es in sich: Bis heute sind alle Versuche, ihm mit einer Impfung zu Leibe zu rücken, gescheitert. Aber mit antiviralen Arzneimitteln lässt es sich in Schach halten.
Menschen mit HIV haben heutzutage die Chance auf die gleiche Lebenserwartung wie Menschen ohne HIV – wenn sie früh diagnostiziert werden, schnell in Behandlung kommen und wenn sie ihre Arzneimittel immer einnehmen. Dann können sie auch niemanden anstecken.
In einem neuen Bericht macht UNAIDS deutlich: HIV/Aids als Bedrohung der öffentlichen Gesundheit zu beenden ist kein Ding der Unmöglichkeit. Viele Länder weltweit – darunter Tansania oder Ruanda – haben die dafür gesteckten Ziele bereits erreicht. Doch es gibt noch viel zu tun. Denn viele andere Länder hinken hinterher – auch Deutschland.
2022…
… lebten weltweit rund 39 Millionen Menschen mit HIV
… erhielten 29,8 Millionen Menschen eine Therapie
… infizierten sich 1,3 Millionen Menschen neu mit HIV
… starben 630.000 Menschen in Folge von AIDS
Wo stehen wir in Deutschland, wenn wir an 2030 denken?
Martin Flörkemeier: Auf dem Papier sieht das erstmal gar nicht so schlecht aus. Wir erreichen bei den UNAIDS-Zwischenzielen für 2030 eigentlich ganz gute Werte: Demnach sollen bis 2025 95 Prozent der Menschen mit HIV diagnostiziert sein, davon sollen 95 Prozent eine Medikation erhalten und davon soll bei wiederum 95 Prozent die Virusvermehrung erfolgreich unterdrückt sein. In Deutschland stehen wir bei 90-96-96.
Eigentlich ganz gut, oder?
Martin Flörkemeier: Aber nur eigentlich. Die Zahlen bedeuten, dass wir die, die diagnostiziert sind, gut versorgen und dass die Virusvermehrung eingedämmt ist. Aber die 90 sind uns ein Dorn im Auge: Die Zahl besagt, dass uns noch zu viele Infizierte durchs Raster fallen. Denn: Ohne Diagnose gibt es keine Behandlung.
Wie viele Menschen sind das?
Martin Flörkemeier: Ein paar Zahlen: 90.000 Menschen leben in Deutschland mit HIV. Davon wissen mindestens 9000 Menschen nicht, dass sie infiziert sind. Das ist eine Schätzung, wahrscheinlich müssen wir sogar von mehr ausgehen. Weil sie nicht in Behandlung sind, können sie das Virus unwissentlich weitertragen.
Bei uns findet jede dritte, in Europa sogar jede zweite Diagnose erst bei fortgeschrittenem Immundefekt statt. Das sind die so genannten Spätdiagnostizierten. Bei jeder fünften Diagnose findet sich bereits das Vollbild Aids. Diese Menschen werden um die Chance gebracht, trotz HIV ein gutes und gesundes Leben zu führen. Ich finde das inakzeptabel.
Was muss passieren?
Martin Flörkemeier: Nur wenn Menschen mit HIV von ihrer Infektion wissen und im Anschluss erfolgreich behandelt werden, können wir Infektionsketten unterbrechen. Also müssen wir beim Testen viel besser werden. Eine HIV-Diagnose ist bei uns noch zu sehr dem Zufall überlassen. Dabei leisten die Aidshilfen, Checkpoints und die Gesundheitsämter schon heute hervorragende Arbeit; bieten kostenlose Tests an und können auch Anonymität garantieren. Selbst Heimtests kann man sich besorgen.
Aber wir brauchen mehr niederschwellige Tests – also Tests, die leichter zu erreichen sind – und Screening-Angebote. Außerdem ist die Stigmatisierung ein großes Problem.
Warum gibt es noch diese Stigmatisierung?
Martin Flörkemeier: Weil die Angst vor Diskriminierung die Menschen daran hindert, zu Ärzt:innen zu gehen. Das ist sogar in unserem Gesundheitswesen ein Thema. Menschen mit HIV berichten uns immer wieder, wie sehr sie unter dem Stigma leiden. Deshalb unterstützen wir von Gilead weltweit und auch in Deutschland Projekte, die aufklären und zur Entstigmatisierung beitragen.
Stigma ist eine der großen Bremsen, die uns daran hindert, wirklich alle zu erreichen. Unwissenheit oder falsches „Wissen“ eine andere. Es gibt noch viele Hürden. Um sie zu identifizieren, haben wir HIVISION100 gestartet. Dahinter steckt das große Ziel, wirklich alle zu erreichen, die das HI-Virus in sich tragen, ohne es zu wissen.
Heißt das: Aus 95 Prozent sollen 100 Prozent werden?
Martin Flörkemeier: Ja, warum auch nicht? Dafür braucht es eine Vision UND Aktionen, zumal wir in Deutschland ja erst bei 90 Prozent sind. Jeder Mensch hat das Recht auf Gesundheit. HIVISION100 steht dafür, die Steine aus dem Weg zu räumen, die uns bis heute daran hindern. Dazu haben wir eine Umfrage gemacht und die verschiedensten Menschen, die in Deutschland mit HIV zu tun haben, gefragt: Welche Hürden sind es? Was sind vielversprechende, innovative oder neu gedachte Ansätze, die den Weg zur einhundertprozentigen Diagnoserate bereiten könnten?
Das war die Grundlage für verschiedene Workshops, die wir überall im Land durchgeführt haben, um neue Lösungsansätze zu entwickeln. Die Idee dahinter: Niemand kann das allein lösen, wir schaffen das nur gemeinsam. Im Grunde geht es bei HIVISION100 um ein destilliertes Schwarmwissen. Das Ziel ist ein Maßnahmenkatalog, mit dem wir der Politik zeigen, wo die sinnvollsten Weichen zu stellen wären.
Werden wir das UN-Ziel, HIV und Aids einzudämmen, erreichen?
Martin Flörkemeier: Ich denke, das liegt an uns, denn alle Instrumente sind eigentlich vorhanden. Wir können testen und dadurch früh erkennen. Wir haben Arzneimittel, die das Virus so stark unterdrücken, dass Menschen mit HIV mit einer normalen Lebenserwartung rechnen können, dass sie nicht an Aids sterben müssen und dass sie nicht ansteckend sind. Wir haben die Prä-Expositionsprophylaxe – die PrEP. Das ist die Vorsorge vor einem möglichen HIV-Kontakt mit nur einer Tablette pro Tag. Sie schützt so gut wie ein Kondom oder die HIV-Therapie, wenn sie richtig angewendet wird.
Was uns fehlt? Mehr Aufklärung und mehr politischer und gesellschaftlicher Wille, diese Erkrankung einzudämmen. Leider zeigt sich gerade in der Politik eine gewissen Müdigkeit beim Blick auf virologische Erkrankungen und wir hören allerorts, dass wichtige Mittel, zum Beispiel für Aufklärung, Testung und Prävention, zusammengestrichen werden. Aber ich bleibe Optimist: Ja, wir werden die Ziele erreichen. Aber wir müssen noch hart dafür arbeiten.