Künstliche Intelligenz, so sieht es Precisis-CEO Karl Stoklosa, werde „in der Neurologie zunehmend eine wertvolle Unterstützung im Behandlungsprozess sein – als ergänzendes Werkzeug, das Ärzte entlasten wird“. Foto: Nejron Photo – KI-generiert/stock.adobe.com

Unsichtbarer Taktgeber fürs Gehirn: Wie künstliche Intelligenz die Neuromedizin revolutioniert

Neurologische Erkrankungen haben sich zu einer globalen Gesundheitskrise entwickelt. Seit 1990 sind die Fallzahlen um 59 Prozent gestiegen, und mehr als 3,4 Milliarden Menschen sind betroffen. Bis 2050 könnte sich die Zahl der Alzheimer- und Parkinson-Erkrankungen verdoppeln. Klassische Therapien reichen nicht mehr aus – und neue Behandlungswege sind dringend nötig. In Heidelberg wird bereits an neuen Hoffnungsträgern geforscht: Künstliche Intelligenz in der Neuromedizin – programmiert von Precisis.

Lange ein Thema für Science-Fiction, ist sie heute bereits in der klinischen Praxis angekommen. Dr. Patrick Reisinger, Data Scientist bei Precisis, erklärt, warum KI in der Medizintechnik nicht nur eine neue Behandlungsmöglichkeit bietet, sondern den gesamten Sektor wie einst ein Taschenrechner die Mathematik verändern könnte. Das Ziel: Vollständig personalisierte Medizin.

Auf dem Weg zur personalisierten Medizin

„Künstliche Intelligenz wird die Medizin auf den Kopf stellen – und wir stehen erst am Anfang“, sagt Reisinger zur tiefgreifenden KI-Revolution in der Medizin. Doch wie genau werden diese Technologien in der Praxis genutzt? Und was bedeutet das für Patienten, Ärzte und die Zukunft der Medizin? Als führender Data Scientist im Forschungs- und Entwicklungsbereich bei dem Heidelberger Unternehmen Precisis, hat er einen direkten Draht zur Entwicklung von Technologien, die das Potenzial haben, die Behandlung von Krankheiten wie Epilepsie und womöglich vielen anderen neurologischen Störungen für immer zu verändern.

„Es ist wie ein Sprung in eine neue Ära! Die KI wird in der Lage sein, die Präzision und Anpassungsfähigkeit der medizinischen Behandlung so zu verbessern, dass sie fast personalisiert wird – und das in Echtzeit“, so der Wissenschaftler. Welche Hürden müssen noch überwunden werden, und wie weit sind wir von einer breiten Anwendung entfernt? Angesicht steigender Fallzahlen neurologischer Erkrankungen scheinen diese Fragen dringender denn je. Reisinger und Precisis-CEO Karl Stoklosa sprechen darüber, was hinter dieser bahnbrechenden Technologie steckt und welche Herausforderungen sie noch meistern müssen.

KI-basierte Implantate: Ein Sprung in die Zukunft

Wie das konkret aussehen kann, zeigt das Beispiel des EASEE-Hirnschrittmachers der Precisis GmbH, einer minimalinvasiven Lösung zur Behandlung von Epilepsie. „Aktuell stehen wir an der Schwelle, Künstliche Intelligenz vollständig in die Patientenversorgung zu integrieren. Wir reden hier nicht mehr nur von einer theoretischen Vision, sondern von einer Realität, in der KI das Gehirn in Echtzeit überwacht, Anfälle vorhersagt und sofort darauf reagiert“, sagt Reisinger. Ein solches System könnte das Gehirn kontinuierlich überwachen, um potenzielle Anfälle zu erkennen und diese dann unmittelbar zu unterbrechen. Diese Technologien könnten EASEE weiter optimieren und noch personalisierter machen, indem sie Echtzeit-EEG-Daten verwenden.

„Die Idee ist, dass KI die Elektroden in unserem Implantat noch gezielter steuern könnte, basierend auf individuellen Mustern und Gehirnaktivitäten“, erklärt Reisinger. Das Konzept ist, dass die Künstliche Intelligenz nicht nur die Daten von Patienten verarbeitet, sondern selbstständig lernt, wie und wann das Implantat am besten stimulieren sollte. Diese Daten werden kontinuierlich gesammelt und in ein KI-Modell eingespeist, das speziell darauf trainiert wird, das Gehirn in Echtzeit zu überwachen und zu reagieren. „KI könnte uns helfen, das Gehirn zu verstehen, bevor es zu einem Anfall kommt“, so Reisinger. Dies könnte nicht nur die Diagnosegeschwindigkeit erhöhen, sondern vor allem die Präzision und Effektivität der Therapie.

Minimalinvasiv unter die Kopfhaut gelegt, sendet dieser Taktgeber von Precisis individuell anpassbare Stromreize ans Gehirn. Das Ziel: aufkommende Epilepsie-Anfälle unterbrechen und die Gehirnaktivität langfristig stabilisieren. Künstliche Intelligenz könnte die Möglichkeiten deutlich erweitern. Foto: Precisis

KI-Chip im Kopf: Die nächste Evolutionsstufe

Die Epilepsiebehandlung wird oft als Vorreiter für KI-gestützte Anwendungen in der Neurologie gesehen. KI-basierte Systeme, die Anfälle vorhersagen und im besten Fall verhindern können, würden den Patienten eine neue Lebensqualität verschaffen. Reisinger führt aus: „Wir reden von einer Technologie, die den Ärzten dabei hilft, die komplexen neurologischen Daten besser zu verstehen und daraufhin präzise Maßnahmen zu ergreifen. Diese Echtzeit-Überwachung wird in der Zukunft noch entscheidender sein, um die Patientenergebnisse erheblich zu verbessern.“ KI könnte auch die individuelle Steuerung und Analyse der EEG-Daten in Kombination mit den Chips, die mit dem Implantat verbunden sind, ermöglichen. Diese Echtzeit-Überwachung wird das Herzstück einer neuen Art der Behandlung darstellen, die auf personalisierte Medizin setzt und den Patienten eine maßgeschneiderte Therapie bietet, die auf ihre individuellen Bedürfnisse abgestimmt ist.

„Die kontinuierliche Weiterentwicklung von Technologien wie KI ist entscheidend für die Zukunft der Medizintechnik“, betont Stoklosa. „Gerade in der Neurologie, einem so komplexen Bereich wie der Epilepsie, liegt die Herausforderung darin, innovative Lösungen zu finden, die den Patienten nicht nur helfen, sondern die Therapie auf eine neue Ebene heben. Es geht darum, die Präzision, mit der wir medizinische Daten nutzen, zu steigern – und das in Echtzeit. Wir müssen als Unternehmen und Branche bereit sein, immer wieder neue Technologien zu integrieren, um den Patienten die bestmögliche Versorgung zu bieten. Nur so können wir den Fortschritt in der Medizin vorantreiben.“

Aktuelle Herausforderungen und der Weg zur breiten Anwendung

Trotz des enormen Potenzials von KI in der Medizin gibt es noch Herausforderungen, die überwunden werden müssen. Insbesondere bei Datenschutz und Regulierungen müssen Lösungen gefunden werden, die sowohl die Sicherheit der Patienten als auch die Integration von KI-gestützten Technologien in die klinische Praxis gewährleisten. „Es gibt noch viele technische und ethische Hürden“, erklärt Reisinger, „aber wir sind auf einem guten Weg.“

Die Datenverfügbarkeit und die Schaffung von verlässlichen, sicheren Infrastrukturen für den Austausch und die Verarbeitung von Gesundheitsdaten sind entscheidend, um das Vertrauen von Patienten und Ärzten zu gewinnen. In Deutschland und weltweit werden immer mehr Projekte ins Leben gerufen, die das Ziel verfolgen, KI-gestützte Behandlungen sicherer und praktikabler zu machen.

Zukunftsvision: Vom Testlauf zur breiten Anwendung

„Das, was wir heute sehen, ist nur der Anfang“, erklärt Stoklosa. „KI wird in der Neurologie zunehmend eine wertvolle Unterstützung im Behandlungsprozess sein – als ergänzendes Werkzeug, das Ärzte entlasten wird“, ist sich der Kopf des MedTechs aus Heidelberg sicher. Er und sein Team sehen in den nächsten Jahren einen Durchbruch in der Integration von KI-Technologien in der klinischen Praxis. Dieser nächste große Schritt wird nicht nur die Behandlungsqualität, sondern auch die Lebensqualität der Patienten signifikant verbessern können.

„Die nächste Evolutionsstufe wird sein, dass wir nicht nur mit den Symptomen kämpfen, sondern den Ursprung von Krankheiten gezielt behandeln können“, so Stoklosa. KI bietet dabei das Potenzial, die medizinische Versorgung nicht nur zu revolutionieren, sondern auf eine präzise, personalisierte Ebene zu heben.  

Info EASEE

In Deutschland leiden rund 830.000 Menschen an Epilepsie. Jedem Dritten kann nicht ausreichend mit Medikamenten geholfen werden oder die Nebenwirkungen beeinträchtigen die Lebensqualität in unerträglichem Maße. Minimalinvasiv unter die Kopfhaut gelegt, ist EASEE ein unsichtbarer und nicht spürbarer Taktgeber für das Gehirn. Er sendet – ohne das Gehirn zu berühren – in kurzen Intervallen individuell anpassbare Stromreize zum epileptischen Fokus. Das System, das aufkommende Anfälle unterbrechen und die Gehirnaktivität langfristig stabilisieren soll, erlaubt volle Bewegungsfreiheit.

Info Precisis

Die Precisis GmbH ist ein innovatives Medizintechnikunternehmen mit Sitz in Heidelberg, das sich auf die Entwicklung und Vermarktung neuromodulatorischer Therapien spezialisiert hat. Seit der Gründung im Jahr 2014 hat sich das Unternehmen insbesondere mit dem EASEE-Hirnschrittmacher einen Namen gemacht. Mehr Infos lesen Sie hier.     pm/tok