Rund 75 Prozent der Menschen in Deutschland sind gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 grundimmunisiert. Im Vergleich zu anderen Industrienationen liegt die Bundesrepublik damit aber nur im Mittelfeld. Wann ging hierzulande das Vertrauen in die Wissenschaft verloren? Und was hat der Rechtspopulismus damit zu tun? Foto: Tino Neitz/stock.adobe.com
Übers Impfen aufklären: Vertrauen in die Wissenschaft stärken, Verschwörungsideen bekämpfen
Vertrauen in die Wissenschaft stärken und Verschwörungsideologien bekämpfen: Das könnte zu höheren Impfraten beitragen – zu diesem Schluss kommen Forscher in einer gemeinsamen Arbeit mit Blick auf COVID-19 in Deutschland. Doch es scheint, als würde sich die Menschheit gerade eher in die entgegengesetzte Richtung entwickeln.
Rund 75 Prozent der Menschen in Deutschland sind gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 grundimmunisiert – sie haben also einen vollständigen Basis-Impfschutz. Im Vergleich zu anderen Industrienationen liegt die Bundesrepublik im Mittelfeld – da ist Luft nach oben, wie Pharma-Fakten.de berichtet.
Coronaimpfungen: Regionale Unterschiede in Deutschland
Verena Bade und Prof. Dr. Hendrik Schmitz von der Universität Paderborn sowie Dr. Beatrice Baaba Tawiah, Munich Research Institute for the Economics of Aging and SHARE Analyses, haben sich das in einer Forschungsarbeit genauer angeschaut: Demnach gibt es auf Ebene der Bundesländer große Unterschiede bei den Impfraten – um mehr als 20 Prozentpunkte. Sachsen bildet hierzulande das Schlusslicht, Bremen nimmt die Spitzenposition ein. Welche Gründe hat das? Zu 72 Prozent sind laut den Wissenschaftlern strukturelle Faktoren wie Demografie, Wohnverhältnisse, ökonomische Situation, Bildungsstatus, politische Ausrichtung dafür verantwortlich.
Die demografische Zusammensetzung der Bevölkerung macht dabei den größten Teil (48 %) aus: „Regionen mit einem höheren Anteil an Menschen im Alter von über 65 Jahren haben beispielsweise höhere Impfraten“, so das Team. Somit könne immerhin fast die Hälfte der regionalen Unterschiede „als gerechtfertigt angesehen werden“, heißt es. „Aber angesichts künftiger Pandemien wollen politische Entscheidungsträger:innen womöglich die anderen 50 Prozent reduzieren.“ Da spielen auch „weiche Faktoren“ eine Rolle, „wie Risikoaversion, Vertrauen in die Regierung und in die Wissenschaft sowie der Glaube an Verschwörungsideologien in Bezug auf den Ursprung des Coronavirus.“
Eine Studie von Forschenden der Yale-Universität aus dem vergangenen Jahr hatte mit Blick auf die USA gezeigt: Weil sich unter Trumps Republikanern überproportional viele Menschen befinden, die gegen das Impfen sind, war die Übersterblichkeit nach COVID-19-Infektion deutlich höher als unter den Wählern der Demokraten. „Populismus verkürzt das Leben“, berichtete Vital-Region. Für Deutschland gibt es ähnliche Untersuchungen, die Zusammenhänge zwischen niedrigeren Impfraten und der Unterstützung für die rechtspopulistische Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) sehen.
Warum entscheiden sich Menschen für oder gegen eine Impfung?
Ein Wissenschaftler -Team rund um Psychologin Prof. Dr. Cornelia Betsch hatte 2019 in einer Veröffentlichung im Bundesgesundheitsblatt dargelegt, welche messbaren, psychologischen Gründe es für das (Nicht-)Impfen gibt:
- das Ausmaß an Vertrauen (Confidence) in die Effektivität und Sicherheit von Impfungen, das Gesundheitssystem und die Motive der Entscheidungsträger
- die Wahrnehmung von Krankheitsrisiken und die Frage, ob Impfungen als notwendig angesehen werden (Complacency)
- das Ausmaß wahrgenommener struktureller Hürden wie Stress, Zeitnot oder Aufwand (Constraints)
- das Ausmaß aktiver Informationssuche und bewusster Evaluation von Nutzen und Risiken von Impfungen (Calculation)
- das Ausmaß der Motivation, durch die eigene Impfung zur Reduzierung der Krankheitsübertragung beizutragen und andere zu schützen (Collective Responsibility)
Demzufolge gehen etwa höhere Confidence-Werte mit einer höheren Impfbereitschaft einher. Solche Menschen neigen „weniger zu verschwörungstheoretischem Denken […], vertrauen Gesundheitsorganisationen eher und sehen einen höheren generellen Nutzen von Medikamenten“. Das Gute ist: Für alle Punkte des 5C-Modells gibt es Möglichkeiten, um zu intervenieren und so die Impfbereitschaft zu erhöhen. In Sachen „Confidence“ gilt es zum Beispiel, über kursierendes Falschwissen aufzuklären; in Sachen „Constraints“ braucht es nach Ansicht der Experten „Maßnahmen im Gesundheitssystem, die das tatsächliche Geimpftwerden einfacher machen“ – Impferinnerungen, fachübergreifendes Impfen beziehungsweise an anderen Orten wie in Apotheken.
Impfen auf der To-do-Liste der Politik
Das Impfen gehört also dringend auf den Hausaufgabenzettel der Politik. Dass Prävention insgesamt zu wenig im Fokus steht, kritisieren Fachleute immer wieder. So erklärte jüngst der Onkologe Prof. Dr. Christof von Kalle: „Wir haben bei der Prävention das Problem, dass wir uns keine konkreten Ziele setzen und wo wir sie haben könnten, nicht nachhalten. […] Überhaupt geben wir für Krankheitsvermeidung schlicht zu wenig aus. Das Geld, das ein Kinderarzt für eine Impfung bekommt? Dafür bekommen Sie in der Autowerkstatt nicht mal den Wischer gewechselt.“
Impfen für Alle
Dabei gibt es genügend Beispiele, die zeigen: Mehr Prävention lohnt sich. So hat die COVID-19-Impfung zwischen Dezember 2020 und März 2023 in Europa 1,6 Millionen Leben gerettet. Wichtig wäre auch, dass sich mehr Menschen in Deutschland gegen Grippe impfen lassen. „Die Schätzungen zur Impfeffektivität der Influenzaimpfung zeigten in der Saison 2023/24 sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich eine Wirksamkeit von über 50 Prozent gegen Influenza A(H1N1) pdm09 in der Altersgruppe der ab 60-Jährigen“, meldete das Robert Koch-Institut (RKI).
Somit war die Wahrscheinlichkeit für eine (schwere) akute respiratorische Erkrankung durch eine solche Infektion „bei Geimpften dieser vulnerablen Altersgruppe nur etwa halb so groß wie bei Ungeimpften.“ Doch nicht einmal jeder Zweite ab 60 Jahren holt sich die Vakzine. Dabei kann sie in Kombination mit den modernen Möglichkeiten zur Vorbeugung von Erkrankungen mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) und mit den COVID-19-Impfungen dazu beitragen, die Krankheitslast in der Herbst- und Winterzeit zu verringern und Arztpraxen sowie Krankenhäuser zu entlasten.
Das würde insbesondere auch dann helfen, wenn eines Tages eine neue Pandemie den Planeten heimsucht. Die Virologin Isabella Eckerle, Universität Genf, fürchtet laut SPIEGEL allerdings, dass wir, „auf gesellschaftlicher Seite schlechter dastehen“ als vor der Coronakrise. Wissenschaftsfeindlichkeit und Verschwörungstheorien hätten „so stark zugenommen, dass es in Zukunft viel schwerer werden wird, sachlich zu den Risiken eines neuen Erregers zu kommunizieren“. Wenn das so bleibt, schießt die Menschheit sich ein Eigentor – auf dem Spiel steht ihre Gesundheit. pm