Kein Geld mehr in den Taschen: Das Defizit der Gesetzlichen Krankenversicherung, das über Zusatzbeiträge der Mitglieder und der Arbeitgeber ausgeglichen werden muss, ist deutlich angestiegen und wird in 2024 und 2025 fast so stark wachsen wie in den zehn Jahren zuvor. Foto: Grafikplusfoto/stock.adobe.com
Steigende Ausgaben im Gesundheitswesen: AOK Baden-Württemberg fordert Maßnahmen des Bundes
Der Verwaltungsrat der AOK Baden-Württemberg hat den Haushalt für 2025 beschlossen. Die Südwestkasse plant 2025 für die Kranken- und Pflegeversicherung Ausgaben von insgesamt rund 24,2 Milliarden Euro. Die stark gestiegenen Ausgaben sind insbesondere bei den Arzneimitteln auffällig.
Beitrag muss angepasst werden – nach oben
„Der Trend der weit überproportional steigenden Leistungsausgaben im Gesundheitswesen setzt sich leider ununterbrochen fort“, stellt Peer-Michael Dick, alternierender Vorsitzender des Verwaltungsrates auf Arbeitgeberseite, fest. „Insbesondere bei den Arzneimitteln und in der stationären und ambulanten Versorgung sehen wir einen unkontrollierbaren Kostentornado. Beitragszahlende, also Mitglieder und ihre Arbeitgeber, zahlen immer mehr, ohne dass sich die Qualität der Versorgung verbessert.“ Um das vor allem durch gesetzliche Regelungen steigende Defizit auszugleichen, müsse die AOK Baden-Württemberg trotz aller Bemühungen zum Jahreswechsel den kassenindividuellen Zusatzbeitragssatz leider auf 2,6 Prozent anpassen, so Dick.
Für die finanzielle Situation der GKV macht Dick die Bundespolitik verantwortlich: „Es wurde in knapp vier Jahren Ampel-Regierung leider versäumt, die immer stärker steigenden Ausgaben in den Griff zu bekommen. Nachdem die Regierung mit dem Versprechen gestartet ist, die Kassenfinanzen zu stabilisieren, stehen wir zum Ende der Legislaturperiode vor dem historisch höchsten Anstieg des durchschnittlichen Zusatzbeitragssatzes.“ Zahlreiche ausgabenintensive Reformen mehrerer Bundesregierungen hätten die wachsende Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben vergrößert.
Nettoausgaben für Arzneimittel steigen um 74 Prozent
Die galoppierenden Ausgaben seien am eindrücklichsten bei den Arzneimitteln zu beobachten. Das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) hatte vor kurzem berichtet, dass die Nettoausgaben für Arzneimittel in der GKV im Jahr 2023 auf einen neuen Höchststand von 54 Milliarden Euro gestiegen seien. „Von 2014 bis 2023 sind die Arzneimittelkosten um 74 Prozent gestiegen, während das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands im selben Zeitraum lediglich um 40,2 Prozent zugenommen hat“, rechnet Dick vor.
„Die unkontrollierte Dynamik bei den Ausgaben lässt sich von der GKV kaum auffangen. Es fehlt an politischen Reformen, die für eine dauerhafte und nachhaltige Entlastung sorgen“. Zur kurzfristigen Kostendämpfung fordert Dick als erste Mindestmaßnahme die Reduzierung der Mehrwertsteuer für Arzneimittel auf den ermäßigten Satz von 7 Prozent. Zudem benötige es stringente Preisbremsen bei neuen, oftmals sehr teuren Arzneimitteln.
Staatliche Zweckentfremdung von Beitragsmitteln
Maren Diebel-Ebers, alternierende Vorsitzende des Verwaltungsrates der AOK Baden-Württemberg auf Versichertenseite, beobachtet das steigende Defizit in der GKV mit großer Sorge: „Zwischen 2013 und 2023 ist das finanzielle Defizit um rund 27 Milliarden Euro gewachsen. Allein bis 2025 wird von einer weiteren Steigerung um bis zu 22 Milliarden Euro ausgegangen und das Defizit damit fast so stark wachsen wie in den zehn Jahren zuvor. Die Zeit tatenlos wegzuschauen, sollte endgültig vorbei sein.“
Problematisch sieht Diebel-Ebers insbesondere die zunehmende Zweckentfremdung von Beitragsmitteln. „Für den Bundesgesundheitsminister scheint es einfacher zu sein, die Beitragszahlenden für Ausgaben zu belasten, die in der Haushaltsplanung des Bundes keine Berücksichtigung finden.“ Als Beispiel nennt die Verwaltungsratsvorsitzende den beschlossenen Krankenhaus-Transformationsfonds, der eigentlich gemeinsam von Bund und Ländern getragen werden müsste. „Statt seiner finanziellen Verpflichtung nachzukommen, verschiebt der Bund seine Verantwortung und belastet die GKV-Beitragszahlenden über zehn Jahre lang mit jährlich 2,5 Milliarden Euro.“
Auch eine auskömmliche Finanzierung der Beiträge für Bürgergeldempfangende sei notwendig. Diese falle aktuell um über zehn Milliarden Euro zu gering aus. Wie der Gesundheitsminister vor diesem Hintergrund davon ausgeht, dass es bereits 2026 zu keiner weiteren Steigerung der Zusatzbeiträge mehr komme, erschließe sich ihr nicht.
Steigende Ausgaben belasten Wirtschaftsstandort
„In der Wirtschaft spüren wir bei abflachender Konjunktur viel Unsicherheit – gerade in der Auto- und Zuliefererbranche. Die fortsetzenden Erhöhungen der Sozialbeiträge schwächen nicht nur den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sie sind auch ein deutlicher Standortnachteil für Deutschland“, fasst Dick zusammen. Betriebe und Angestellte würden zunehmend belastet, mit Auswirkungen insbesondere auf kleine und mittlere Einkommen.
„Die GKV-Ausgaben haben einen Kipppunkt erreicht. Es muss jetzt gegengesteuert werden, damit wir auch zukünftig von einem versorgungssicheren und qualitativ hochwertigen Gesundheitsstandort profitieren können“, ergänzt Diebel-Ebers.
AOK Baden-Württemberg gestaltet Gesundheitswesen aktiv mit
Dem stimmt Johannes Bauernfeind, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg, zu: „Zukunftsfähiges Handeln erfordert eine nachhaltige Finanzierung. Wir haben im Gesundheitswesen in Baden-Württemberg in den vergangenen Jahren viel für mehr Qualität und Effizienz erreicht und uns mit den Haus- und Facharztverträgen, unseren breiten Präventionsangeboten und unserem gesellschaftlichen Engagement gut und zukunftsfest aufgestellt.“ Diese Erfolge dürften durch fehlende Strukturreformen bei der GKV-Finanzierung nicht aufs Spiel gesetzt werden.
„Wir gestalten die Versorgung in der Region für unsere Versicherten aktiv mit und werden uns im anstehenden Bundestagswahlkampf dafür einsetzen, dass in der nächsten Regierung das Thema stabiler GKV-Finanzen einen höheren Stellenwert erhält.“ Das Gesundheitswesen stehe vor großen Herausforderungen, betont der Vorstands-Chef: „Es braucht ein umfassendes Konzept für das Gesundheitssystem. Von der Prävention bis zur Pflege müssen wir das System effizienter, patientenorientierter und qualitativ-hochwertiger aufstellen – oder zumindest den Krankenkassen dafür mehr Handlungsmöglichkeiten einräumen. Dafür braucht es nicht ständig weiteres Geld, sondern echte Strukturreformen, die zur dauerhaften Entlastung führen.“ pm
Kommentar von Johannes Bauernfeind: Bund kommt seiner Finanzverantwortung nicht nach
Johannes Bauernfeind, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg, kommentiert die Anhebung des durchschnittlichen Zusatzbeitrags durch den GKV-Schätzerkreis, der auf 2,5 Prozent steigt – ein Plus von 0,8 Beitragssatzpunkten.
„Diese Steigerung ist historisch. Noch nie ist in einer Legislaturperiode der durchschnittliche Zusatzbeitrag so stark gestiegen. So lag der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz 2021 noch bei 1,3 Prozent. 2025 ist er nun fast doppelt so hoch. Die Kosten für die Krankenkassen steigen auf ein Rekordhoch von voraussichtlich 341,4 Milliarden Euro. Wobei der Schätzerkreis gleich die Prognose des laufenden Jahres noch um 5 Milliarden nach oben anpassen musste.
Als GKV warnen wir seit Monaten vor diesem Sprung und haben wiederholt die Bundesregierung aufgefordert, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Stattdessen steigen die Kosten für Krankenhäuser, ärztliche Behandlungen und Arzneimittel nahezu ungebremst. Zudem gibt es etliche Baustellen im Gesundheitswesen, wo der Bund seiner Finanzverantwortung nicht nachkommt, und die Beitragszahlenden belastet. Beispielsweise bei der Finanzierung der Krankenhausreform, die nun im Bundestag beschlossen wurde. Darüber hinaus verschärfen neue und zum Teil fragwürdige Gesetze die Finanzsituation, ohne die Gesundheitsversorgung zu verbessern. Stichwort: Geheimpreise für Arzneimittel zur Förderung des Pharmastandortes Deutschland. Der massive Eingriff in die Finanzhoheit der Selbstverwaltung beim Griff in die Kassenrücklagen hat unseren Handlungsspielraum für vorausschauendes und nachhaltiges Handeln deutlich reduziert.
Klar ist doch: ein steigender Beitragssatz belastet alle Beitragszahler – Mitglieder wie Arbeitgeber – und damit den Wirtschaftsstandort Deutschland. Und Lauterbach irrt, wenn er im Handelsblatt-Interview diese Woche betont, mögliche Beitragssatzsteigerungen seien „keine Entscheidung des Ministers“. Denn es ist auch eine Entscheidung, keine geeigneten Gegenmaßnahmen zu ergreifen.“