Offenbar haben Coronaviren verschiedene Zellen des Körpers befallen können, nicht aber das Gehirn. Über den Vagusnerv jedoch scheinen die Entzündungsreaktionen in anderen Organen auf den Hirnstamm eingewirkt und so dessen Funktion gestört haben. Foto: Crystal light/stocl.adobe.com

So wirkt sich COVID-19 auf das Gehirn aus: indirekt und trotzdem folgenschwer

Noch immer ist nicht abschließend geklärt, wie neurologische Symptome bei COVID-19 zustande kommen. Liegt es daran, dass SARS-CoV-2 das Gehirn infiziert? Oder sind die Beschwerden eine Folge der Entzündung im Rest des Körpers? Eine Studie der Charité – Universitätsmedizin Berlin liefert jetzt Belege für letztere Theorie.

Sie ist im Fachmagazin Nature Neuroscience (Radke J et al. Proteomic and transcriptomic profiling of brainstem, cerebellum, and olfactory tissues in early- and late-phase COVID-19. Nat Neurosci 2024 Feb 16. doi: 10.1038/s41593-024-01573-y) erschienen, wie das DeutschesGesundheitsportal (DGP) berichtet.

Wird das Gehirn von Coronaviren befallen?

Kopfschmerzen, Gedächtnisprobleme oder Fatigue, also eine krankhafte Erschöpfung, sind nur einige der neurologischen Beeinträchtigungen, die während einer Corona-Infektion auftreten und auch darüber hinaus andauern können. Forschende vermuteten schon früh in der Pandemie, dass eine direkte Infektion des Gehirns die Ursache dafür sein könnte. „Auch wir sind von dieser These zunächst ausgegangen. Einen eindeutigen Beleg dafür, dass das Coronavirus im Gehirn überdauern oder sich gar vermehren kann, gibt es allerdings bislang nicht“, erklärt Dr. Helena Radbruch, Leiterin der Arbeitsgruppe Chronische Neuroinflammation am Institut für Neuropathologie der Charité.

Aber: „Dazu wäre zum Beispiel ein Nachweis intakter Viruspartikel im Gehirn nötig. Die Hinweise, dass das Coronavirus das Gehirn befallen könnte, stammen stattdessen aus indirekten Testverfahren und sind deshalb nicht ganz stichhaltig.“

Neurologische Symptome nur Nebenwirkung?

Einer zweiten These zufolge wären die neurologischen Symptome stattdessen eine Art Nebenwirkung der starken Immunreaktion, mit der der Körper sich gegen das Virus wehrt. Vergangene Studien hatten auch hierfür Anhaltspunkte geliefert. Die aktuelle Charité-Arbeit untermauert nun diese Theorie, mit umfassenden molekularbiologischen und anatomischen Ergebnissen aus Autopsie-Untersuchungen.

Keine Anzeichen einer direkten Infektion des Gehirns

Für die Studie analysierte das Forschungsteam verschiedene Bereiche des Gehirns von 21 Menschen, die aufgrund einer schweren Corona-Infektion im Krankenhaus, zumeist auf der Intensivstation, verstorben waren. Zum Vergleich zog es 9 Patienten heran, die nach intensivmedizinischer Behandlung anderen Erkrankungen erlegen waren. Die Forschenden prüften zunächst, ob das Gewebe sichtbare Veränderungen aufwies, und fahndeten nach Hinweisen auf das Coronavirus. Dann ermittelten sie durch die detaillierte Analyse von Genen und Proteinen, welche Vorgänge in einzelnen Zellen vonstattengingen.

Wie andere Forschungsteams auch konnten die Charité-Wissenschaftler in einigen Fällen das Erbgut des Coronavirus im Gehirn nachweisen. „SARS-CoV-2-infizierte Nervenzellen haben wir jedoch nicht gefunden“, betont Helena Radbruch. „Wir gehen davon aus, dass Immunzellen das Virus im Körper aufgenommen haben und dann ins Gehirn gewandert sind. Sie tragen noch immer das Virus in sich, es infiziert aber keine Gehirnzellen. Das Coronavirus hat also andere Zellen des Körpers, nicht aber das Gehirn befallen.“

Gehirn reagiert auf Entzündung im Körper

Dennoch beobachteten die Forschenden, dass bei den COVID-19-Betroffenen die molekularen Vorgänge in manchen Zellen des Gehirns auffällig verändert waren: Die Zellen fuhren beispielsweise den sogenannten Interferon-Signalweg hoch, der typischerweise im Zuge einer viralen Infektion aktiviert wird. „Einige Nervenzellen reagieren offenbar auf die Entzündung im Rest des Körpers“, sagt Prof. Christian Conrad, Leiter der Arbeitsgruppe Intelligent Imaging am Berlin Institute of Health in der Charité (BIH). Zusammen mit Helena Radbruch hat er die Studie geleitet.

„Diese molekulare Reaktion könnte die neurologischen Beschwerden von COVID-19-Betroffenen gut erklären. Zum Beispiel können Botenstoffe, die diese Zellen im Hirnstamm ausschütten, Fatigue verursachen. Denn im Hirnstamm liegen Zellgruppen, die Antrieb, Motivation und Stimmungslage steuern.“

Die reaktiven Nervenzellen fanden sich hauptsächlich in den sogenannten Kernen des Vagusnervs, also Nervenzellen, die im Hirnstamm sitzen und deren Fortsätze bis in Organe wie Lunge, Darm und Herz reichen. „Vereinfacht interpretieren wir unsere Daten so, dass der Vagusnerv die Entzündungsreaktion in unterschiedlichen Organen des Körpers ‚spürt‘ und darauf im Hirnstamm reagiert – ganz ohne eine echte Infektion von Hirngewebe“, resümiert Helena Radbruch. „Auf diese Weise überträgt sich die Entzündung gewissermaßen aus dem Körper ins Gehirn, was dessen Funktion stören kann.“

Zeitlich begrenzte Reaktion

Die Nervenzellen reagieren dabei nur vorübergehend auf die Entzündung, wie ein Vergleich von Menschen zeigte, die entweder während der akuten Corona-Infektion oder erst mindestens zwei Wochen danach verstorben waren. Am stärksten ausgeprägt während der akuten Erkrankung, normalisierten sich die molekularen Veränderungen anschließend wieder – jedenfalls in den allermeisten Fällen.

„Wir halten es für möglich, dass eine Chronifizierung der Entzündung bei manchen Menschen für die oft beobachteten neurologischen Symptome bei Long COVID verantwortlich sein könnte“, sagt Christian Conrad. Um dieser Vermutung weiter nachzugehen, plant das Forschungsteam nun, die molekularen Signaturen im Hirnwasser von Long-COVID-Patienten genauer zu untersuchen.

Zur Studie

Voraussetzung für die Studie war die explizite Einwilligung der Patienten oder der Angehörigen, für die sich die Forschungsgruppe ausdrücklich bedankt. Die Arbeit ist im Rahmen des Nationalen Obduktionsnetzwerks (NATON) entstanden, einer Forschungsinfrastruktur des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Netzwerks Universitätsmedizin (NUM). Das NUM wurde initiiert und wird koordiniert von der Charité und vereint die Kräfte der 36 Universitätsklinika in Deutschland.     DGP