
„Integrative Medizin schlägt die Brücke zwischen Schulmedizin und Komplementärmedizin und fußt dabei auf wissenschaftlichen Erkenntnissen“, sagt der baden-württembergische Gesundheitsminister Manne Lucha (Die Grünen). Fotos: sompong_tom (links) und Vadym (rechts)/stock.adobe.com
Manne Lucha: „Potenzial einer Integrativen Gesundheitsversorgung noch viel mehr ausschöpfen“
Ein eigenes Kompetenznetz Integrative Medizin (KIM), ein eigener Lehrstuhl dafür an der Universität Tübingen und beachtliche Forschungserfolge: Baden-Württemberg zeigt seit Jahren, dass Integrative Medizin, das Miteinander von konventioneller und komplementärer Medizin, Lösungen in der Krise des Gesundheitssystems anzubieten hat. Im Interview mit „Gesunde Vielfalt“ spricht Manne Lucha (Die Grünen), Minister für Soziales, Gesundheit und Integration in Baden-Württemberg, über vermeidbare Antibiotika-Resistenzen, den Wählerwillen und das große Interesse der Bevölkerung an integrativmedizinischen Verfahren.
Sie sind seit 2016 im Amt und unter anderem Schirmherr des Kompetenznetzes Integrative Medizin (KIM) in Baden-Württemberg, das für ein Miteinander aus Schulmedizin und Komplementären Therapieverfahren steht. Seither hat sich hinsichtlich Integrativer Medizin viel getan in Ihrem Bundesland. Warum ist Ihnen diese Ausrichtung wichtig?
Manne Lucha: Das Thema Komplementärmedizin ist allgemein stark nachgefragt, wenn es um Gesundheitsversorgung und Vorbeugung geht. Viele Patientinnen und Patienten in Baden-Württemberg möchten mehr über die Zusammenhänge und Hintergründe von Krankheiten erfahren. Sie sind so gut informiert wie selten zuvor und offener für innovative Ansätze. Diese Menschen achten mehr auf ihre Lebensweise und ihren Körper. Wie in anderen Bundesländern auch nutzen sie vermehrt Naturheilverfahren, die konventionelle Therapien ergänzen. Wir haben das Thema der Integrativen Medizin daher 2021 bewusst in den grün-schwarzen Koalitionsvertrag aufgenommen. Viele Wählerinnen und Wähler im Land wünschen sich Therapievielfalt und komplementärmedizinische Versorgungsangebote. Deshalb setzen wir uns auch für den barrierefreien Zugang zu einer qualitätsgesicherten integrativen Medizin für alle ein. Integrative Medizin schlägt die Brücke zwischen Schulmedizin und Komplementärmedizin und fußt dabei auf wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Was tun Sie konkret dafür, diese wissenschaftliche Basis zu schaffen?
Manne Lucha: Wir haben zum Beispiel die Einrichtung eines entsprechenden Lehrstuhls an der Universität Tübingen unterstützt und fördern damit die Erforschung komplementärmedizinischer Verfahren. In einem Projekt des Universitätsklinikums Heidelberg haben wir mit Mitteln aus dem Forum Gesundheitsstandort Baden-Württemberg das Kompetenznetz Integrative Medizin gefördert. Dabei haben die Forschenden erhebliche Erkenntnisse über Sekundäre Pflanzenstoffe sowie auf dem Gebiet der Ernährung gewonnen. Und sie haben qualitätsgesicherte und praxisnahe Empfehlungen für eine integrativmedizinische Behandlung entwickelt.
ZUR PERSON

Was ist Ihre Vision?
Manne Lucha: Unser gemeinsames Ziel ist es, solche Ergebnisse in die Regelversorgung zu überführen. Kliniken, ambulante Versorgungsnetze und wissenschaftliche Institute in Baden-Württemberg nehmen sich gemeinsam dieser wichtigen Aufgabe an, wirksame und sichere Behandlungskonzepte zu erarbeiten und einzuführen – für ein stetig wachsendes Netz, das für Wirksamkeit, Qualität und Sicherheit Integrativer Medizin steht. Dieser Ansatz ist bundesweit einmalig.
Wie blicken Sie – als gelernter Krankenpfleger und mit einem MA in Management im Sozial- und Gesundheitswesen – auf die aktuelle medizinische und therapeutische Versorgung in Ihrem Bundesland und in Deutschland, vor allem angesichts des notwendigen Umbruchs im Gesundheitssystem?
Manne Lucha: Der Fachkräftemangel, die demografische Entwicklung, die angespannte Haushaltssituation und die sich rasant fortentwickelnde Digitalisierung machen auch vor der Gesundheitsversorgung nicht Halt. Jetzt müssen wir die Weichen dementsprechend stellen und Prioritäten setzen. Im Bereich Gesundheitspolitik liegt der Hauptfokus auf der Landeskrankenhausplanung im Zuge der Krankenhausreform. Wir werden alles daransetzen, dass in Baden-Württemberg am richtigen Ort das richtige medizinische Angebot besteht. Das muss nicht immer ein Krankenhaus sein. Wir werden die sektorenübergreifende Versorgung und die Digitalisierung in der Medizin weiter voranbringen. Das bedeutet auch, dass wir gewohnte Bahnen verlassen. Gewachsene Strukturen müssen wir überdenken und gegebenenfalls auch ändern.
Welchen Stellenwert hat dabei die Versorgung mit Integrativer Medizin (IM)?
Manne Lucha: Die Integrative Medizin kann hier einen wertvollen Beitrag leisten, sowohl zur Patientenversorgung, als auch zur Entlastung der Sozialkassen. Im Fokus steht dabei die ergänzende Behandlung mit komplementärmedizinischen und -pflegerischen Verfahren bei Krebserkrankungen, chronisch-entzündlichen Erkrankungen sowie Atemwegs- und Harnwegsinfektionen. Wir gehen davon aus, dass Patientinnen und Patienten auch künftig sehr an komplementärmedizinischen Verfahren interessiert sein werden. Wenn Evidenz, Qualitätssicherung, Behandlungsmodule und Behandlungspfade weiterentwickelt werden, steigen auch die Chancen, die Integrative Medizin im Versorgungssystem zu verankern.
Auf einem Symposium des KIM im November 2024 nannten Sie Antibiotika-Resistenzen ein „gravierendes Problem“. Integrative Medizin könne helfen, dies zu beheben. Inwiefern?
Manne Lucha: Der breite und unsachgemäße Einsatz von Antibiotika ist eine wesentliche Ursache dafür, dass es in Deutschland, Schätzungen zufolge, jährlich zu rund 55.000 Infektionen und 2400 Todesfällen durch antibiotikaresistente Krankheitserreger kommt. Die Integrative Medizin bemüht sich, weniger Antibiotika zu verwenden, nach dem Grundsatz „So wenig wie möglich und so viel wie nötig“. Dies kann zu einem geringeren Selektionsdruck auf das Mikrobiom des Darms führen. Die Integrative Medizin trägt auch dazu bei, dass weniger Antibiotika verschrieben werden, indem sie vor allem entzündungshemmende pflanzliche Heilmittel einsetzt. Die Praxis der Komplementärmedizin fördert zudem einen gesunden Lebensstil, eine gute und gesunde Ernährung, regelmäßige Bewegung und körperliche Aktivität. Dadurch wird das Immunsystem der Menschen gestärkt und erneuten Infektionen lässt sich so vorbeugen.
2018 wurde am Uniklinikum Tübingen ein erster Lehrstuhl für Naturheilkunde und Integrative Medizin mit Sitz am Robert Bosch Krankenhaus in Stuttgart eingerichtet. Sie sahen damals darin die Festigung eines breiten Therapieangebotes, zu dem aus Ihrer Sicht auch Naturheilkunde und Komplementärmedizin gehören. Wie blicken Sie heute auf diesen Lehrstuhl?
Manne Lucha: Das Angebot an komplementärmedizinischen Therapiemöglichkeiten ist riesig. Doch nicht bei jeder Therapie ist der Nutzen belegt. Wenn komplementärmedizinische Methoden erforscht und gelehrt werden, lässt sich die Patientensicherheit erhöhen, und entsprechende Therapieangebote können in der Versorgung verankert werden. Professor Dr. Holger Cramer und sein Team vom Robert Bosch Centrum für Integrative Medizin und Gesundheit haben zum Beispiel die Wirksamkeit von Yoga erforscht. In mehreren Studien konnten sie zeigen, dass Yoga Stress reduziert und sich damit bei depressiven Erkrankungen – im Vergleich zur Kontrollgruppe – der Schweregrad reduzierte. Dabei ersetzen Yoga und andere komplementärmedizinische Methoden sicherlich keine leitliniengerechte Behandlung mit Psychotherapie oder Medikamenten. Wie sich gezeigt hat, können sie aber durchaus begleitend sinnvoll sein oder die Wartezeit bis zur Therapie überbrücken. Aktuell leitet Professor Cramer Studien, die die Wirkung von Yoga auf Fatigue untersuchen, also die starke Ermüdung und Erschöpfung etwa beim Post Covid-Syndrom.
Wo sehen Sie Ihr Bundesland im Hinblick auf komplementäre und Integrative Medizin in zehn Jahren?
Manne Lucha: Ich gehe fest davon aus, dass Integrative Medizin künftig noch mehr an Bedeutung gewinnt. Die von Baden-Württemberg angestoßenen Maßnahmen zur Stärkung der Komplementärmedizin werden dazu beitragen, das bislang wenig genutzte Potenzial einer Integrativen Gesundheitsversorgung künftig noch viel mehr auszuschöpfen. Wir haben hier einen vielversprechenden und zukunftsweisenden Weg eingeschlagen, der sich langfristig für die Gesundheitsversorgung der Menschen im Land auszahlen wird.
Info
Die Initiative „Gesunde Vielfalt“ ist ein unabhängiger Zusammenschluss von Experten unterschiedlicher Therapieformen. Ihr Ziel ist das Zusammenwirken von konventionellen und komplementären Therapien – die Integrative Medizin – stärker in den Vordergrund der Diskussion zu rücken, um notwendige Verbesserungen des Gesundheitssystems anzustoßen. Die Initiative steht für den gegenseitigen Respekt der Therapieformen und Heilberufe und versteht sich als Plattform und Impulsgeber für einen ideologiefreien, offenen Diskurs um die Verbesserung des Gesundheitswesens in Deutschland. pm