Die Natur als Apotheke: Bei vielen funktionellen Störungen, die Menschen im Alltag beeinträchtigen, können pflanzliche Mittel oft die gesündere und günstigere Wahl sein. Foto: Sebastian Duda/stock.adobe.com
Homöopathie-Weiterbildung im Südwesten gestrichen: Viel Kritik an Landesärztekammer
Die Entscheidung der Landesärztekammer Baden-Württemberg, die Weiterbildung Homöopathie aus der Weiterbildungsordnung zu streichen, sorgt für Diskussionsstoff. Dieses Vorgehen gefährde aus Sicht des Arzneimittelhersteller-Verbands Pharma Deutschland die Zukunft der integrativen Medizin und ignoriere das weit verbreitete Bedürfnis einer großen Gruppe von Patienten, für die Komplementärmedizin ein wichtiges Angebot einer umfassenden Gesundheitsversorgung darstelle.
Das Land der Naturheilkunde und Homöopathie
Zwei Jahre hatte die Ärzteschaft in Baden-Württemberg die Fragen diskutiert, ob es auch künftig eine Weiterbildung für Homöopathie geben soll. Auch die Bundesärztekammer hatte sich 2022 für die Streichung ausgesprochen. Das Sozialministerium muss die entsprechende Satzungsänderung noch genehmigen. Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) hatte dies „das absolut falsche Signal“ genannt. Lucha war gegen die Abschaffung. Für ihn ist Baden-Württemberg das Land der Naturheilkunde und die Homöopathie sei für viele Menschen ein wichtiger Teil ihrer Gesundheitsversorgung.
Und innerhalb des Bundeslandes ist Pforzheim ein Zentrum der Naturheilkunde. Mit dem Naturheilverein 1892 Pforzheim e. V. (NHV) residiert hier Deutschlands größter Naturheilverein. Der Vorsitzende Peter Emmrich, Diplom-Biologe M.A. und Arzt für Allgemeinmedizin, der selbst als Weiterbildungsreferent im Südwesten tätig war, klagt: „Ich finde die maßgeblich durch die Klinikärzte beeinflusste Entscheidung schlecht. In der Klinik werden drei Prozent der Patienten behandelt und in den Praxen 97 Prozent. Deshalb hätte die Entscheidung von der Bevölkerung getroffen werden müssen. Die möchten doch auch zukünftig eine homöopathische Behandlung.“
Keine Weiterbildung mehr, aber weiterhin homöopathische Behandlungen
Der Deutsche Zentralverein homöopathischer Ärzte (DZVhÄ) äußerte sich verärgert. „Die Ärztekammer Baden-Württemberg nimmt hier eine von der Bevölkerung geforderte und in der Versorgung bewährte Heilmethode aus der Weiterbildung“, hieß es in einer Mitteilung. Auch Emmrich fragt sich, wie sich denn nun junge Kollegen qualifizieren sollen, „wenn die Ausbildung mehr oder weniger komplett wegbricht“. Die Homöopathie-Weiterbildung gab es bislang nur noch in Baden-Württemberg, Sachsen und Rheinland-Pfalz.
Zusatzweiterbildungen seien spezielle Qualifikationen und stellten generell keine Voraussetzung für Diagnostik und Therapie dar, hatte die Ärztekammer nach der Entscheidung mitgeteilt. Die Weiterbildung Homöopathie solle nicht mehr angeboten werden. Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung der Kammer hatte zuvor keine Bedenken ergeben. Die Behandlung von Patientinnen und Patienten in Baden-Württemberg mit homöopathischen Methoden und Mitteln werde durch diesen Schritt weder eingeschränkt noch verboten, betonte die Kammer. Mediziner, die die Weiterbildung bereits absolviert haben oder momentan noch dabei sind, wären von der Änderung nicht betroffen. Die DZVhÄ betonte, dass die Streichung nicht zur Folge habe, dass die Homöopathie nicht mehr von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet wird.
Wichtige Ergänzung zur Schulmedizin
„In der Schweiz und in Österreich gibt es uneingeschränkt eine ärztliche homöopathische Therapie. Offensichtlich sind diese Länder besser aufgestellt“, sagt Emmrich. „Eine überwältigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung“, so der NHV-Vorsitzende, wünsche sich eine integrative Medizin, „also eine Kombination aus konventioneller und komplementärer Medizin.“ Komplementär bedeute, so Emmrich: „Naturheilkunde, Phytotherapie, Homöopathie und anthroposophische Medizin. Darauf greifen große Teile der Bevölkerung regelmäßig oder gelegentlich zurück. Diese Menschen haben damit gute Erfahrungen gemacht, und viele Ärzte können das bestätigen.“
Pharma Deutschland teilt diese Ansicht und betont, dass die Homöopathie eine wichtige Ergänzung zur Schulmedizin darstelle und vielen Patienten wertvolle therapeutische Optionen bietet. Rückblickend auf die Zeit nach der Coronapandemie verweist Emmrich auf Medikamentenengpässe in Deutschland in den beiden vergangenen Wintern, „in denen die Naturheilkunde mit pflanzlichen Medikamenten Versorgungslücken geschlossen hat – und nicht nur bei Kindern mit Husten oder Fieber.“ Seine Erkenntnis aus seinem Praxisalltag: „Die Bevölkerung fordert mehrheitlich die Vielfalt und Verfügbarkeit von Therapieoptionen. Eine schnelle Selbstmedikation mit Arznei aus der Naturheilkunde hat neben den Vorteilen für den Patienten auch positive Folgen für Hausarztpraxen und falsch genutzte Notfallambulanzen, die alle wegen Rezeptwünschen überfüllt sind.“
Was Schulmediziner von Homöopathen lernen können
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach begrüßte die Entscheidung hingegen. In der Homöopathie gebe es nichts zu lernen für Ärzte, schrieb der SPD-Politiker auf der Plattform X. Das „nichts“ trifft allerdings nicht ganz zu. In einer Publikation im Fachmagazin „Frontiers in Psychology“ ist ein Forschungsteam von den Universitäten Marburg, Gießen und Essen im Sonderforschungsbereich 289 Treamtent Expectations der Frage nachgegangen, wie die Behandlungserwartung den Behandlungserfolg beeinflusst und wie die Homöopathie diese Effekte einsetzt. Der Sonderforschungsbereich hat Ende Mai 2024 die Weiterförderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft in Höhe von 15 Millionen Euro für eine zweite Förderphase eingeworben.
Der Psychologische Psychotherapeut Dr. Marcel Wilhelm, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Marburg, beschreibt die Hintergründe für die Publikation: „Mit dem Artikel wollen wir aufzeigen, welche Mechanismen unserer Ansicht nach in der Homöopathie genutzt werden, sodass trotz fehlender Wirkstoffe Behandlungseffekte eintreten.“ Für Emmrich, der sich in der klassischen Schulmedizin wie in der Naturheilkunde auskennt, gilt: „Wichtig ist doch aber, dass diese Erfahrungsmedizin ganz real seit vielen Generationen Menschen hilft. Natürlich sage ich als Diplom-Biologe und Facharzt für Allgemeinmedizin, dass es Krankheiten gibt, bei denen ich klassische Antibiotika oder moderne Medikamente aus den Hightech-Forschungslaboren verschreiben muss. Aber bei den vielen funktionellen Störungen, die Menschen im Alltag beeinträchtigen, sind pflanzliche Mittel oft die bessere, gesündere und günstigere Wahl.“
Pharma Deutschland: Widerspruch zum Koalitionsvertrag
Die Streichung der Weiterbildung für Homöopathie widerspreche laut Pharma Deutschland auch dem im Koalitionsvertrag „Jetzt für Morgen – Der Erneuerungsvertrag für Baden-Württemberg“ formulierten Grundsatz, die Therapievielfalt im Gesundheitswesen zu fördern. Im Koalitionsvertrag, der die Grundlage des Regierungshandelns im Bundesland Baden-Württemberg bildet, heißt es dazu: „Patientinnen und Patienten haben den Wunsch, im Krankheitsfall zwischen unterschiedlichen Angeboten und Therapien entscheiden zu können. Dazu gehört für viele Menschen auch die Komplementärmedizin. Wir setzen uns für den barrierefreien Zugang zu einer qualitätsgesicherten integrativen Medizin für alle ein.“
Dr. Traugott Ullrich, Vorsitzender des Landesverbandes Baden-Württemberg von Pharma Deutschland, betont: „Die Entscheidung der Landesärztekammer ignoriert die Bedürfnisse und Wünsche vieler Patientinnen und Patienten, die von der ganzheitlichen Herangehensweise der Homöopathie profitieren. Zudem stellt die Entscheidung eine Einschränkung der Ausbildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Ärztinnen und Ärzte dar, die ihr Spektrum erweitern und ihren Patientinnen und Patienten eine umfassendere Versorgung bieten möchten.
Gesundheitsstandort Baden-Württemberg stärken
Ullrich weist außerdem darauf hin, dass die Entscheidung der Ärztekammer dem politischen Schwerpunkt der Landesregierung entgegensteht, welcher darauf abzielt, den Gesundheitsstandort zu stärken. „Baden-Württemberg ist einer der stärksten Gesundheitsstandorte in Deutschland und überwiegend mittelständisch geprägt. Homöopathische und anthroposophische Arzneimittel werden überwiegend von hier ansässigen Unternehmen hergestellt und liefern damit einen wesentlichen Beitrag für die Wertschöpfung in ihren Regionen.“
Pharma Deutschland appelliert an die Landesregierung, sich für die Komplementärmedizin einzusetzen und die Weiterbildungsmöglichkeiten im Bereich Homöopathie zu erhalten. Eine vielfältige und umfassende medizinische Ausbildung sei essenziell, um den unterschiedlichen Bedürfnissen der Patienten gerecht zu werden und eine ganzheitliche Versorgung sicherzustellen. pm/dpa/tok
Zur Person
1963 in Pforzheim geboren, studierte Peter Emmrich Biologie (Diplom) und Chemie, danach Medizin. Später erwarb er den Abschluss Biologische Medizin an der WHO-Universität Mailand und den Master in Komplementärmedizin und Kulturwissenschaften an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. 2006 ließ sich Emmrich in der Pforzheimer Nordstadt als Facharzt für Allgemeinmedizin nieder. Seit 1997 ist er Vorsitzender des Naturheilvereins 1892 Pforzheim und seit 2016 Präsident des Europäischen Naturheilbundes und Vizepräsident des Zentralverbandes für Ärzte für Naturheilverfahren und Regulationsmedizin. Ferner hat Emmrich einen Lehrauftrag für Allgemeinmedizin an der Universität Tübingen und ist Fachgutachter bei der Landesärztekammer Baden-Württemberg. Als Autor von 14 Büchern und regelmäßiger Gast beim Schweizer Gesundheitsfernsehen QS24 wurde Emmrich weithin bekannt. Für sein ehrenamtliches Engagement erhielt er die Portus-Medaille der Stadt Pforzheim.