Jeder zweite Euro der Arzneimittelkosten (53 Prozent) für die Gesetzliche Krankenversicherung entfällt laut einer aktuellen Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) auf die patentgeschützten Arzneimittel. Die Nettoausgaben für Arzneimittel in der GKV sind 2023 auf einen neuen Höchststand von 54,0 Milliarden Euro gestiegen. Foto: lesslemon/stock.adobe.com
Gesetzliche Krankenversicherung beklagt erneuten Rekordwert bei Arzneimittelkosten
Die Nettoausgaben für Arzneimittel in der gesetzlichen Krankenversicherung sind im Jahr 2023 auf einen neuen Höchststand von 54,0 Milliarden Euro gestiegen. Damit liegen die Arzneimittelkosten um 74,0 Prozent höher als vor zehn Jahren. Zum Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands hat im selben Zeitraum lediglich um 40,2 Prozent zugenommen.
Patentgeschützte Arzneimittel sind der dickste Kostenbrocken
Die deutlichen Ausgabensteigerungen bei Arzneimitteln liegen laut der aktuellen Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) vor allem in der Preisentwicklung patentgeschützter Arzneimittel begründet. Auf diese entfallen demnach mehr als die Hälfte der Ausgaben, gleichzeitig decken sie aber einen immer geringeren Versorgungsanteil ab: Nach verordneten Tagesdosen lag dieser im Jahr 2023 bei 6,7 Prozent. Im Jahr 2014 waren es noch 11,4 Prozent. Das entspricht einem Rückgang von über 40 Prozent in den letzten zehn Jahren.
„Der anhaltende Trend, dass die Preise für patentgeschützte Arzneimittel kontinuierlich steigen, während ihr Anteil an der tatsächlichen Versorgung weiter abnimmt, hat sich auch im vergangenen Jahr erneut bestätigt“, betont WIdO-Geschäftsführer Helmut Schröder. „Obwohl die letzten gesetzlichen Anpassungen durch das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz eigentlich eine dämpfende Wirkung entfalten sollten, haben sie den starken Anstieg der Markteintrittspreise nicht wirksam bremsen können. Dies zeigt deutlich, dass der bestehende regulatorische Rahmen dringend weiterentwickelt werden muss, um eine bezahlbare und nachhaltige Arzneimittelversorgung in der GKV zu sichern.“
Ausgabentrend setzt sich ungebremst fort
Während die Nettokosten der Arzneimittel im Gesamtmarkt in den vergangenen zehn Jahren um 74,0 Prozent von 31,0 auf 54,0 Milliarden Euro gestiegen sind, hat die Anzahl der Verordnungen lediglich um 13,2 Prozent von 651,5 auf 737,3 Millionen zugenommen. „Dieser Trend ist ungebrochen und kann weder durch den knapp 6-prozentigen Anstieg der GKV-Versichertenzahl noch durch die Zunahme der Verordnungsmenge um 13 Prozent erklärt werden“, so Schröder.
Die Ursache liegt laut Einschätzung des WIdO vor allem in den gestiegenen Arzneimittelpackungs-Preisen. So betrug im Jahr 2023 der durchschnittliche Preis je verordneter Arzneimittelpackung 73,18 Euro. Im Jahr 2014 waren es 47,60 Euro. Dies entspricht einer Steigerungsrate von 54 Prozent in den vergangenen zehn Jahren.
Kostentreiber patentgeschützte Arzneimittel
Kostentreiber sind weiterhin vor allem die patentgeschützten Arzneimittel, für die im Jahr 2023 mehr als jeder zweite Euro der Arzneimittelkosten (53 Prozent) ausgegeben wurde – bei einer nur geringen Verordnungsabdeckung von 6,7 Prozent, gemessen an den verordneten Tagesdosen. So kostete 2014 eine Packung eines patentgeschützten Arzneimittels im Durchschnitt 190,06 Euro; 2023 lagen die Kosten mit 587,72 Euro mehr als dreimal so hoch.
Die Steigerung bei den durchschnittlichen Packungspreisen für Arzneimittel, deren Patentschutz abgelaufen ist und die damit auch als Generika verfügbar sind, lag in den letzten zehn Jahren bei 31,0 Prozent. Im generikafähigen Marktsegment kostete eine Arzneimittelpackung 2023 durchschnittlich 34,85 Euro (2014: 26,60 Euro). Patentgeschützte Arzneimittel haben damit 2023 im Schnitt knapp 17-mal so viel gekostet wie Arzneimittel im generikafähigen Markt – 2014 betrug der durchschnittliche Preis nur das Siebenfache.
Hochpreisige Arzneimittel
Die Kosten- und Marktdynamik bei den hochpreisigen Arzneimitteln zeigt sich noch an anderen Kennzahlen: Unter den mehr als 63.000 verschiedenen Arzneimitteln, die im Jahr 2023 für die Versorgung von GKV-Versicherten eingesetzt wurden, befinden sich Medikamente, die einen Apothekenverkaufspreis von mindestens 1000 Euro haben. Diese „Hochpreiser“ nehmen laut WIdO-Analyse immer größere Umsatzanteile ein. Die Folge ist, dass zunehmend mehr Geld für die Versorgung von wenigen Patienten aufgewendet wird.
Während 2014 nur etwas mehr als jeder vierte Euro (27,6 Prozent) des Gesamtumsatzes auf Arzneimittel mit Preisen von 1000 Euro oder mehr entfiel, war es 2023 knapp jeder zweite Euro (47,6 Prozent). Damit haben sich die Umsätze der „Hochpreiser“ in den vergangenen zehn Jahren verdreifacht. Zugleich erreichten diese Arzneimittel aber nur einen Anteil von 1,5 Prozent an den 692 Millionen Verordnungen verschreibungspflichtiger Medikamente im Jahr 2023. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch bei den noch teureren Medikamenten mit Packungspreisen jenseits von 5000 Euro und mehr.
Kostendruck trotz GKV-Finanzstabilisierungsgesetz
„Im laufenden Jahr 2024 nimmt der Ausgabenanstieg noch an Fahrt auf: Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz sollte den Kostendruck lindern, doch der erwartete Effekt blieb aus. Die Ausgaben stiegen im ersten Halbjahr 2024, auch bedingt durch die Rückführung eines verringerten Herstellerabschlags, um über 10 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und ein Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht“, betont Helmut Schröder.
„Es ist höchste Zeit, dass die Politik entschiedene Maßnahmen ergreift, um die Preisgestaltung bei Markteinführungen stärker zu regulieren statt wie im Falle der Geheimpreise den Wünschen der pharmazeutischen Industrie zu folgen. Ohne konsequentere Regulierungen riskieren wir, dass lebenswichtige Innovationen zwar entwickelt, aber unerschwinglich werden. Die Bezahlbarkeit neuer Arzneimittel stößt an Grenzen – das Solidarsystem der gesetzlichen Krankenversicherung darf nicht überfordert werden.“
WIdO-Veröffentlichung beleuchtet Entwicklung des Arzneimittelmarktes
Die aktuelle WIdO-Veröffentlichung „Der GKV-Arzneimittelmarkt: Klassifikation, Methodik und Ergebnisse 2024“ beleuchtet das Marktgeschehen im Arzneimittelbereich. Neben Gründen für Marktbewegungen bei bestimmten Wirkstoffgruppen werden auch Daten zu den verordnenden Facharztgruppen ausgewertet. Die meisten Arzneiverordnungen wurden 2023 mit 25,0 Milliarden definierten Tagesdosen (DDD, Defined Daily Dose) von Hausärzten veranlasst, gefolgt von den hausärztlich tätigen Internisten mit 12,8 Milliarden DDD. Die höchsten durchschnittlichen Nettokosten je Arzt waren mit 5,1 Millionen Euro bei den Verordnungen durch Fachärzte für Hämatologie/Onkologie zu verzeichnen.
Die WIdO-Publikation informiert auch darüber, wie viele Arzneimittel jeder GKV-Versicherte im Jahr 2023 in Deutschland durchschnittlich erhalten hat: Demnach wurden im vergangenen Jahr 651 DDD je Versicherten verordnet. Den niedrigsten Arzneimittelverbrauch wiesen die 25- bis 29-Jährigen mit durchschnittlich 114 DDD je Versicherten auf. Die meisten Verordnungen erhielt die Gruppe der 80- bis 84-Jährigen mit durchschnittlich 1909 DDD. Auch zwischen den Geschlechtern gibt es Unterschiede: Frauen erhielten mit durchschnittlich 693 DDD zirka 15 Prozent mehr Verordnungen als Männer mit 603 DDD.
Mit dem PharMaAnalyst bietet das WIdO auch ein Online-Portal für Analysen zum Arzneimittelmarkt an. Es ermöglicht den Anwendern passgenaue Auswertungen aller Verordnungsdaten der GKV für die Jahre 2012 bis 2023. Die Daten zu den jährlich 3000 verordnungs- und umsatzstärksten Arzneimitteln, die der GKV-Arzneimittelindex im WIdO qualitätsgesichert aufbereitet, stehen für individuelle Analysen zur Verfügung. Auswertungen können im PharMaAnalyst nach konkreten Fertigarzneimitteln sowie nach einzelnen Wirkstoffen oder Wirkstoffgruppen durchgeführt werden. Außerdem können die 100 umsatz- oder verordnungsstärksten sowie die teuersten Präparate im gesamten GKV-Arzneimittelmarkt in Ranglisten angezeigt werden.
Die Berechnungen des WIdO basieren auf anonymisierten Verordnungsdaten, die in öffentlichen Apotheken und Krankenhausapotheken im Rahmen der ambulanten Versorgung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung abgerechnet werden. Die Daten basieren auf rund 468 Millionen Rezeptblättern und zirka 820 Millionen einzelnen Verordnungen. pm