Die Übertragung wissenschaftlicher Erkenntnisse aus den deutschen Forschungslabors hin zum Patienten am Krankenbett wird in Deutschland ausgebremst. Wenn ein Unternehmen eine klinische Studie machen will, dauert die Genehmigung bei uns sechs Monate länger als in den USA. Foto: metamorworks/stock.adobe.com
Gen- und Zelltherapien: Vom Ausbremsen der „absoluten Zukunft“
Gen- und Zelltherapien revolutionieren die Medizin: 18 dieser neuartigen Arzneimittel sind in Europa bereits zugelassen, 15 davon sind Orphan Drugs für Menschen mit seltenen Erkrankungen. Deutschland leistet sich den Luxus, diesem Fortschritt erhebliche Hürden entgegenzusetzen – zu Lasten der Patienten, aber auch zu Lasten des Wirtschafts- und Wissenschaftsstandortes. Das war Thema auf einem parlamentarischen Frühstück, das die LAWG Deutschland, ein Zusammenschluss von 16 forschenden Pharmaunternehmen, durchgeführt hat.
Vom Forschungslabor zum Krankenbett
Deutschland ist weltweit absolute Spitze. Und das ist keine Ironie. Wenn es um die medizinische Forschung im Bereich neuartiger Zelltherapien geht, sind Deutschlands Forschungszentren schlicht Weltniveau. Das betonte Professorin Dr. Marion Subklewe von der LMU München. „Wir haben eine tolle Grundlagenforschung – da ist Deutschland weltweit führend. Aber wir scheitern an der Translation“. Damit meint sie die Übertragung wissenschaftlicher Erkenntnisse ans Krankenbett, wie die Onlineplattform Pharma-Fakten.de meldet.
Zu lange Genehmigungszeit
„Wenn ein Unternehmen eine klinische Studie machen will, dauert die Genehmigung bei uns sechs Monate länger als in den USA.“ Die Wissenschaftlerin weiß, wovon sie spricht: An der LMU waren sie mit die ersten in Deutschland, die Menschen mit der neuen CAR-T-Zelltherapie behandelt haben. Bis heute sind es schon mehr als 100 Patienten. Aus ihrer Praxis weiß die Onkologin: „Es ist überreguliert: Wir sind anders als die anderen Länder.“ In diesem Fall heißt es: Für Pharmaunternehmen ist es zunehmend unattraktiv hierzulande klinische Studien durchzuführen.
Es lohnt sich, diese sechs Monate genauer zu reflektieren: Sechs Monate war zum Zulassungszeitpunkt der ersten CAR-T-Zelltherapien im Jahr 2018 das mediane Überlebensfenster, das Menschen mit bestimmten Blutkrebserkrankungen noch zur Verfügung stand. Sie galten als „austherapiert“. Das bedeutet: Die deutsche Überregulierung kostet Menschenleben.
Das Zukunftsversprechen der Gen- und Zelltherapien
Worum geht es eigentlich? Der atemberaubende Fortschritt in der Medizin zeigt sich unter anderem an den sogenannten ATMPs – das Kürzel steht für „Arzneimittel für neuartige Therapien“. Das sind zum Beispiel Gen- oder Zelltherapeutika wie CAR-T-Zelltherapien, die vor allem bei Blutkrebserkrankungen eingesetzt werden. Das „Zukunftsversprechen“ (Professorin Subklewe) funktioniert so: „Wir machen eine Blutabnahme, verändern die Genzellen im Labor und nach einer 3 bis 4-wöchigen Produktionszeit erhält der Patient seine Zellen zurück.“ Das dauert 10 Minuten: „Es ist eine einmalige Infusion.“
Eingesetzt werden die verschiedenen CAR-T-Zelltherapeutika hauptsächlich im Bereich Leukämien; die Ergebnisse sind mindestens beeindruckend: „Die Studie ZUMA-1 hat gezeigt, dass wir 5 von 10 Patienten heilen konnten.“ In der Zeit vor CAR-T sahen die Chancen anders aus: „Bei der bis dahin etablierten Chemotherapie waren es 7 Prozent der Patienten, die eine Remission erreicht haben.“
Auch beim Multiplen Myelom sieht Professorin Subklewe Fortschritte. „Da sehen wir noch keine Heilung. Aber wir sehen, dass wir mit der Einmaltherapie die Ergebnisse deutlich verbessern können.“ Neben der deutlichen Verlängerung des krankheitsfreien Überlebens ist ihr besonders wichtig, dass die Lebensqualität der behandelten Menschen steigt – statt jeden Tag Tabletten zu nehmen, bekommen sie nur einmal eine Infusion.
Personalisierte Immuntherapie gegen Krebs
Für Professorin Subklewe gibt es keinen Zweifel: Der personalisierten Immuntherapie gehört die Zukunft. „Wir werden uns wegbewegen von konventionellen Chemotherapien. Die Immuntherapie hat das Potenzial Krebs zu heilen und ihn nicht nur zurückzudrängen. Das ist die absolute Zukunft.“ Und nicht nur bei Krebs: Für den kardiovaskulären Bereich werden solche Therapien bereits getestet oder auch bei Autoimmunerkrankungen. Hier hatte die Uni Erlangen weltweit für Schlagzeilen gesorgt – mit der erfolgreichen Behandlung einer Patientin mit Systemischem Lupus erythematodes. Marion Subklewe: „In den USA weiß man jetzt, wo Erlangen liegt.“
Noch mehr Forschung ist nötig
Wer die Freude über den Fortschritt teilt, ist Ulla Ohlms, seit über 20 Jahren in der Patientenvertretung aktiv und selbst Brustkrebspatientin. „Ich bin total begeistert, was sich in der Krebsforschung getan hat.“ Aber: „Wir sind noch nicht gut genug.“ Soll heißen: Aus Sicht kranker Menschen muss es mehr Forschung geben, nicht weniger. Und sie sieht die Folgen des im Herbst verabschiedeten GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes (GKV-FinStG) äußerst kritisch: „Es kann nicht sein, dass uns ein staatliches Regulatorium den Einsatz von neuen Medikamenten verbietet oder ausbremst.“
Der Skandal mit dem Lungenkrebs-Medikament
Ulla Ohlms bezieht sich auf die Tatsache, dass ein Unternehmen ein Lungenkrebs-Medikament für wenige Menschen mit einer ganz bestimmten Mutation in Deutschland vom Markt genommen hat, weil das GKV-FinStG die Rahmen- und Erstattungsbedingungen dermaßen verschlechtert hat, dass die wirtschaftlichen Grundlagen für die Erforschung neuartiger Arzneimittel in Deutschland nicht mehr stimmen. In Richtung Politik sagt sie: „Mich hat der Aufschrei der Lungenkrebspatienten erreicht.“
Und sie beklagt, wie im System – sie meint damit den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) – der Nutzen für die Patienten gesehen wird: „Der Nutzen ist dort immer nur als ´overall survival` definiert, also als das Gesamtüberleben. Wir Patientenvertreter kämpfen dafür, dass das krankheitsfreie Überleben endlich auch in Deutschland ein anerkannter Endpunkt bei der Bewertung von Arzneimitteln wird.“ Das ist auch international längst Konsens.
Der Unterschied ist enorm: Wenn bei der Bewertung nur darauf geschaut wird, wie sich das Gesamtüberleben verlängert, wird nur ein Teilaspekt des Arzneimittels bewertet. „Wenn ihnen ihr Onkologe sagt: Sie haben jetzt seit 15 Monaten kein Fortschreiten der Erkrankung – das ist für uns ein Patientennutzen“, sagt die Patientenvertreterin.
Innovative Therapien nicht für Deutschland
Das System läuft dem Fortschritt hinterher. Ulla Ohlms fordert deshalb eine Reform des Nutzenbewertungssystems AMNOG: „Wir brauchen eine Sprunginnovation beim AMNOG.“
Derweil steigt die Zahl innovativer Therapien, die in Deutschland nicht eingeführt oder vom Markt genommen werden. Deutschland bremst den medizinischen Fortschritt aus.
Das GKV-FinStG soll auf den Prüfstand
Die Hoffnung der Industrie ist nun, dass zentrale Elemente des Gesetzes reformiert werden. Thomas Stranzl, LAWG-Vorsitzender und Mitglied der Geschäftsführung beim forschenden Biotech-Unternehmen Gilead Sciences: „Gen- und Zelltherapien haben nicht nur das Potenzial die medizinische Praxis zu revolutionieren, sondern können auch erhebliche wirtschaftliche und wissenschaftliche Impulse für den Gesundheitsstandort Deutschland setzen.“ Um diese Erfolgsgeschichte fortzuschreiben, brauche es aber vernünftiger Rahmenbedingungen – das GKV-FinStG aber habe diese „Leitplanken“ ausgehöhlt.
Dabei bekam er argumentativ Schützenhilfe von Professor Jürgen Wasem, Wirtschaftswissenschaftler an der Uni Duisburg-Essen: „Die Logik, dass teurer sein darf, was auch besser ist, ist eine bestechende Logik.“ Und genau die sei mit dem Gesetz über Bord geworfen worden.
Immerhin: Die Botschaft von den Konstruktionsfehlern des GKV-FinStG – seine Gefahren für die Versorgung kranker Menschen – ist in der Politik angekommen. Die Schirmherrin der LAWG-Veranstaltung, SPD-Wirtschaftspolitikerin Gabriele Katzmarek, will neuartige Arzneimittel nicht nur „über die Kostenecke“ diskutieren. Die industrielle Gesundheitswirtschaft (iGW), wozu auch forschende Arzneimittelhersteller gehören, „ist eine Branche, die eine Millionen Arbeitsplätze schafft, starke Impulse für Forschung und Entwicklung setzt und für Wohlstand sorgt.“ Sie sei eine der Leitindustrien des Landes: „Wir müssen sie besser fördern.“ In Richtung Pharmaunternehmen sagte sie: „Ich denke, wir werden im Rahmen der Evaluierung des GKV-FinStG etwas hinbekommen.“ Gesundheitspolitik, so die dahinter liegende Botschaft, ist auch Wirtschaftspolitik.
Am Ende geht es in der Diskussion um Menschen. Professorin Subklewe nennt sie „unsere Helden, die mit uns diesen Weg gehen und sich trauen, diese neuen Therapien zu erhalten.“ Und die darauf vertrauen, dass in Deutschland das passiert, was als Ziel im AMNOG-Gesetz steht, das seit 2011 die Zusatznutzenbewertung von Arzneimitteln leiten soll: „Den Menschen müssen im Krankheitsfall die besten und wirksamsten Arzneimittel zur Verfügung stehen.“ pm