Die Präzisionsonkologie versucht, über eine erweiterte molekulare Diagnostik therapeutische Zielstrukturen im Tumor zu finden – also Ansatzpunkte für eine zielgerichtete, individuelle Krebstherapie. Foto: Diflope/stock.adobe.com

Präzisionsonkologie: „Wir werden bei vielen Krebsarten deutliche Verbesserungen sehen“

Das relativ junge Feld der Präzisionsonkologie bietet enorme Potenziale in bestimmten Bereichen der Krebstherapie. Welche das sind und wie diese Potenziale umgesetzt werden können, darüber haben wir mit Dr. Benedikt Westphalen gesprochen – er ist Ärztlicher Leiter Präzisionsonkologie am LMU-Klinikum in München.

Dr. Benedikt Westphalen, LMU-Klinikum in München. Foto: privat

Was genau ist unter Präzisionsonkologie zu verstehen?

Dr. Benedikt Westphalen: Präzisionsonkologie ist eine Untergruppe der personalisierten Onkologie, die darauf abzielt, ein optimales diagnostisch-therapeutisches Konzept aufzustellen, das individuell auf die einzelnen Patient:innen zugeschnitten ist. Die Präzisionsonkologie versucht dabei, über eine erweiterte molekulare Diagnostik therapeutische Zielstrukturen im Tumor zu finden – also Ansatzpunkte für eine zielgerichtete Therapie.

Ein wichtiger Teil dieser Diagnostik ist das so genannte Hochdurchsatz-Sequenzierungsverfahren, mit dem wir bestimmte genomische Veränderungen im Tumor identifizieren können. Einfacher gesagt: Wir sehen uns auf der Zellebene an, weshalb aus einer gutartigen Zelle eine bösartige geworden ist. Im Idealfall finden wir bei dieser erweiterten molekularen Diagnostik Strukturen in der Zelle, für die es Medikamente gibt, mit denen wir die Patient:innen zielgerichtet und individualisiert behandeln können.

Bei welchen Krebsarten hat die Präzisionsonkologie bislang die besten Ergebnisse erzielt?

Westphalen: Vorreiterin ist die Therapie des nicht-kleinzelligen Bronchialkarzinoms. Hier wissen wir, dass 30 bis 50 Prozent unserer Patient:innen eine solche molekulare Zielstruktur aufweisen. In vielen Fällen kann man diesen Lungenkrebs, der früher mit einer klassischen Chemotherapie behandelt wurde, jetzt mit zielgerichteten Medikamenten therapieren. Ein weiteres Beispiel ist die Behandlung des schwarzen Hautkrebses, des malignen Melanoms. Hier weisen viele Patient:innen eine bestimmte Mutation auf, bei der wir therapeutisch ansetzen können.

Und es gibt noch eine weitere Krebsart, bei der wir in den letzten Jahren sehr große Fortschritte gemacht haben: Das cholangiozelluläre Karzinom, also Gallenwegskrebs – hier haben wir inzwischen mehrere zugelassene zielgerichtete Therapie-Optionen. Diese Erkrankung war über viele Jahrzehnte mit einer sehr schlechten Prognose verbunden – aber jetzt beginnen wir langsam, kleinere und größere Subgruppen von Patient:innen zu identifizieren, die wir personalisiert behandeln können.

Was bedeutet das für die Überlebensraten?

Westphalen: Es ist schwierig, über alle Gruppen von Patient:innen hinweg genaue Zahlen zu nennen, denn dazu betrachten wir statistische Auswertungen, die über längere Zeiträume – Jahre und Jahrzehnte – erhoben werden müssen und die es zu einem großen Teil noch gar nicht gibt. Was wir aber sagen können: Beim nicht-kleinzelligen Bronchialkarzinom finden sich erhebliche Verbesserungen – und zwar sowohl im Hinblick auf das Fortschreiten der Erkrankung als auch im Gesamtüberleben. Beim schwarzen Hautkrebs ist es ähnlich und auch beim Gallenwegskarzinom deuten erste Daten in diese Richtung.

Muss ich als Krebspatient damit rechnen, bei einer Studie ein wirkungsloses Placebo zu erhalten?

Westphalen: Das wäre geradezu unethisch. In der Tat wird es immer schwieriger, bei diesen zum Teil sehr kleinen Patient:innengruppen noch randomisierte klinische Studien zu machen. Wir können ja Menschen, die eine gute Therapieoption haben, nicht mit einem wirkungslosen Scheinmedikament behandeln. Wir behandeln also Patient:innen mit diesen neuartigen Medikamenten ohne einen Vergleichsarm und sehen uns dann die klinische Wirksamkeit an, die in der Regel sehr gut ist.

Wie viele Krebspatienten könnten von einer molekulargenetischen Diagnostik profitieren?

Westphalen: Wir haben in Deutschland aktuell zwischen 200.000 und 300.000 Krebstodesfälle pro Jahr. Die erweiterte molekulare Diagnostik kommt bislang überwiegend bei Patient:innen zum Einsatz, deren Tumorerkrankung schon weit fortgeschritten ist. Wenn wir bei dieser Patientengruppe eine solche Diagnostik durchführen, dann finden wir bei 30 bis 40 Prozent der Patient:innen eine geeignete Zielstruktur – wir sprechen also von ungefähr 40.000 bis 50.000 Krebspatient:innen, die in Deutschland pro Jahr profitieren könnten.

Ist das tatsächlich schon der Fall?

Westphalen: Die erweiterte molekulare Diagnostik ist technisch vergleichsweise aufwändig. Es braucht sehr viel Expertise, nicht nur bei uns medizinischen Onkolog:innen, sondern auch bei Pathologen und Diagnostik-Anbietern. Diese Expertise ist überwiegend an großen Universitätskliniken vorhanden – ein Großteil der Patient:innen in Deutschland wird aber nicht an Universitätskliniken behandelt, sondern in anderen Krankenhäusern oder in der Niederlassung.

Es geht also darum, die Diagnostik für alle Patient:innen im Gesundheitssystem nutzbar zu machen. Erfreulicherweise gibt es inzwischen ein gesetzlich geregeltes Modellvorhaben zu Diagnostik und Therapiefindung mittels Genomsequenzierung bei seltenen und bei onkologischen Erkrankungen. Damit soll möglichst vielen Patient:innen der Zugang zur Präzisionsonkologie ermöglicht werden. (Anmerkung der Redaktion: Dieses Modellvorhaben startet voraussichtlich Anfang 2024 und ist auf 5 Jahre angelegt.)

Wie beschleunigt man die präzisionsonkologische Versorgung von Krebspatienten?

Westphalen: Die Vernetzung der beteiligten Sektoren müsste verbessert werden. So brauchen wir etwa einen guten Austausch zwischen den Diagnostik-Erbringern und den Behandelnden. Letztere brauchen einen Zugang zu molekularen Tumorboards, die sie bei der Therapiefindung unterstützen. Das ist noch eine Schwachstelle – bislang sind die Befunde der erweiterten molekularen Diagnostik nicht immer schnell und einfach in eine Behandlungsstrategie umzusetzen. Dazu braucht es Expertengremien, ein molekulares Tumorboard, das die Befunde bewertet und Therapien vorschlägt. Diagnostik alleine reicht nicht, sondern es müssen daraus auch therapeutische Konsequenzen gezogen werden.

Wie können Krebs-Patienten am Präzisionsonkologie-Programm teilnehmen?

Westphalen: Der erste Schritt ist, das primäre Behandlungsteam anzusprechen und zu fragen: Macht eine erweiterte molekulare Diagnostik in meinem Fall Sinn? Präzisionsonkologie-Programme gibt es an allen großen deutschen Universitätsklinika, dort können Patient:innen sich ebenfalls informieren. Es lohnt sich, für eine präzisionsonkologische Beratung Kontakt zum nächstgelegenen Krebszentrum aufzunehmen.

Rollt mit der Präzisionsonkologie eine Kostenlawine aufs Gesundheitswesen zu?

Westphalen: Ich verstehe diese Sorge, halte sie aber für unbegründet. Schon heute entfällt auf die erweiterte molekulare Diagnostik nur ein Bruchteil der Gesamtkosten einer Krebsbehandlung – teilweise weniger als ein Prozent. Die Technologien werden mit der Zeit deutlich günstiger. Hinzu kommt: Wenn die Patient:innen länger leben, dann werden sie unter Umständen auch wieder arbeiten und in das Sozialsystem einzahlen.

Wie sieht die Präzisionsonkologie der Zukunft aus?

Westphalen: Das Zusammenspiel aus innovativer, qualitätsgesicherter molekularer Krebsdiagnostik und Therapie wird zu einer weiteren Säule der Behandlung von Tumorpatient:innen werden. Nicht alle Patient:innen können von diesem Ansatz profitieren, aber es werden immer mehr. In den kommenden Jahren wird es auch immer mehr zielgerichtete Therapeutika geben, die dann zum Beispiel zunächst im Rahmen von klinischen Studien zum Einsatz kommen.

Welche konkreten Entwicklungen erwarten Sie in den nächsten Jahren?

Westphalen: Wir werden in wenigen Jahren neue Therapeutika sehen, die sich gegen ganz zentrale molekulare Veränderungen von Krebserkrankungen wenden, nämlich gegen KRAS und P53 – beide Proteine spielen eine Rolle bei Prozessen, die das Wachstum von Krebszellen vorantreiben. Wir sprechen hier von weltweit mehreren Millionen Patient:innen pro Jahr.

Das bedeutet: Wir werden Substanzen zur Verfügung haben, die nicht mehr nur in kleinen Subgruppen, sondern über alle Tumorerkrankungen hinweg zum Einsatz kommen. Diese Substanzen werden den Krebs nicht ausrotten, aber sie bieten uns neue Optionen, die wir dann auch klug einsetzen müssen. Die Krebstherapie wird also zunehmend individualisiert erfolgen und wir werden bei vielen Krebsarten deutliche Verbesserungen sehen. pharma-fakte.de