Mit 33 klinischen Studien pro einer Million Einwohner hat sich Deutschland schon lange aus der internationalen Spitzengruppe herauskatapultiert – ein Land wie Dänemark führt 6-mal mehr Studien durch. Dabei sind klinische Studien echte Innovationsmaschinen. Foto: ArtemisDiana/stock.adobe.com

Ohne klinische Studien gibt es keinen medizinischen Fortschritt

Es war einmal vor gar nicht allzu langer Zeit, da war Deutschland weltweiter Vizemeister: Nur in den USA wurden mehr klinische Studien durchgeführt. Inzwischen belegt die Bundesrepublik Platz 7. Das hat weitreichende Folgen. Denn in klinischen Studien können Ärzte die Medizin von Morgen erlernen und mitgestalten; Patienten können früh von neuen Therapieansätzen profitieren.

Im Interview mit Dr. Petra Moroni-Zentgraf, Medizinische Leiterin bei Boehringer Ingelheim, wird deutlich, warum Deutschland für Forschungen unattraktiv geworden ist und was dagegen getan werden muss.

Dr. Petra Moroni-Zentgraf, Medizinische Leiterin bei Boehringer Ingelheim. Foto: Andreas Reeg

Warum ist es so wichtig, dass klinische Studien in Deutschland stattfinden?

Dr. Petra Moroni-Zentgraf: Ohne klinische Studien gibt es keinen medizinischen Fortschritt. Keine Hoffnung für all jene Menschen, die mit einer Krankheit leben, für die es noch keine oder nur unzureichende Therapieoptionen gibt. Keine Mittel gegen kleine Infekte oder große Pandemien – Corona hat uns das eindrücklich gezeigt. Klinische Studien sind ein Indikator für die medizinische Innovationskraft eines Landes.

Wenn immer mehr Unternehmen auf Forschungszentren in den USA, China, Spanien oder Kanada setzen, um die Wirksamkeit von Medikamenten zu testen, sollte uns das hellhörig werden lassen. Denn das heißt, dass der Standort Deutschland immer unattraktiver wird. Vor allem jedoch heißt das, dass die Patientinnen und Patienten hierzulande immer später Zugang zu Arzneimitteln erhalten, die ihr Leben zum Positiven verändern könnten.

Warum ist Deutschland als Standort für klinische Forschung vergleichsweise unattraktiv?

Dr. Petra Moroni-Zentgraf: Die Gründe sind vielfältig. Da wären langwierige Genehmigungsverfahren, schleppende Digitalisierung, fehlende Aufklärung, hoher Verwaltungsaufwand, uneinheitliche Anforderungen an den Datenschutz und komplexe Abstimmungen mit Behörden, Ethik-Kommissionen und Forschungseinrichtungen. Das Ergebnis: Während andere Länder schon erste Studienteilnehmer rekrutieren, wird hierzulande noch auf allen Ebenen diskutiert und verhandelt. Hinzu kommt das im vergangenen Jahr verabschiedete GKV-Finanzstabilisierungsgesetz: Die für den medizinischen Fortschritt immens wichtigen Schrittinnovationen haben es durch das Gesetz besonders schwer, angemessene Konditionen auf dem Markt zu bekommen.

Wenn ein Arzneimittelhersteller nicht sicher sein kann, dass seine Innovationen am Ende verlässliche Marktbedingungen vorfinden, wird er auch die zu ihrer Erforschung nötigen Studien anderswo durchführen. Und: Neben den schwierigen Rahmenbedingungen ist hierzulande die Skepsis gegenüber klinischen Studien relativ hoch. Während in Dänemark pro einer Million Einwohner 179 Menschen an klinischen Studien teilnehmen, sind es in Deutschland gerade mal 30.

Was muss sich ändern?

Dr. Petra Moroni-Zentgraf: Um mehr Studienteilnehmer:innen zu gewinnen, ist mehr Aufklärungsarbeit notwendig. Wir müssen die Sorgen der Patientinnen und Patienten ernst nehmen, ihnen zuhören und unsere Arbeit an ihren Bedürfnissen ausrichten. Darüber hinaus braucht es bessere politische Rahmenbedingungen. Konkret: verlässliche Marktbedingungen für Innovationen, Abbau von Bürokratie, Harmonisierung der rechtlichen Beratung durch die Ethik-Kommissionen, einheitliche Regeln zum Beispiel beim Datenschutz, Entwicklung von standardisierten Musterverträgen sowie eine zunehmende Vernetzung der Studienstandorte.

Vor allem braucht es aber auch mehr Zusammenarbeit und das nimmt alle Akteure in die Pflicht: Politik, Behörden, Forschung und Unternehmen, die Vertreter des Gesundheitswesens, Sponsoren und Patientenorganisationen. So können wir alle dazu beitragen, Deutschland als Studienstandort wieder attraktiver zu machen. Denn Spitzenforschung bedeutet auch immer Spitzenmedizin und damit eine bestmögliche Versorgung für Patientinnen und Patienten.




Quelle: Kearney-Analyse basierend auf GlobalData 2023 / Grafik: Pharma-Fakten.de

Deutschland ist Studienmuffel

Mit 33 klinischen Studien pro einer Million Einwohner hat sich Deutschland schon lange aus der internationalen Spitzengruppe herauskatapultiert – ein Land wie Dänemark führt 6-mal mehr Studien durch. „Die Erosion des Pharma-Innovationstandorts Deutschland hat längst begonnen“ – so ist das in einer Studie nachzulesen, die der Pharmaverband vfa und das Beratungsunternehmen Kearney herausgegeben haben.

Klinische Studien sind Innovationsmaschinen. Sie bringen neue Therapien früh – noch vor Zulassung – ins Land, ermöglichen kranken Menschen Behandlungsmöglichkeiten, die es bisher nicht gab. Die medizinischen Teams bleiben am Puls der Zeit und sammeln Erfahrungen mit innovativen Arzneimitteln. Die Zahl der klinischen Studien ist auch ein Gradmesser, wie innovativ ein medizinischer Standort ist – und bleiben wird. Forschung und Entwicklung (F&E) schafft die Grundlage für eine bessere Medizin von morgen.

„Der Zug ist abgefahren“

Beispiel: CAR-T-Therapien bei bestimmten Blutkrebserkrankungen; sie wurden 2018 in Deutschland eingeführt. Bereits Jahre vorher aber konnten Menschen im Rahmen klinischer Untersuchungen davon profitieren. CAR-T ist mehr als nur ein neues Krebsmedikament – aus dem Blut des Erkrankten wird ein Cocktail entwickelt, der dem eigenen Immunsystem sagt, was es zu tun hat, um die Krebszellen zu bekämpfen. Die ersten Menschen, die in Deutschland damit behandelt wurde, waren „durchtherapiert“; soll heißen: Nichts hatte ihren Krebs stoppen können. Ihre Lebenserwartung? Rund ein halbes Jahr. CAR-T hat das verändert – viele der damit behandelten Menschen sind längst ins normale Leben zurückgekehrt.

Doch gerade im Hinblick auf neuartige Zell- und Gentherapien finden Studien zunehmend nicht mehr in Deutschland statt: „95 Prozent der gesamten klinischen Forschung finden in den USA und Asien statt und weniger als 4 Prozent bei uns. Der Zug ist abgefahren“, hatte Roche-Chef Professor Dr. Hagen Pfundner auf einer Veranstaltung zum Biotechnologie-Standort Deutschland erklärt.

Deutschland verliert massiv an Boden

Vergleicht man die Studienaktivität verschiedener Länder, verliert der hiesige Standort massiv an Boden: In Dänemark sind es fast 200 laufende Studien pro eine Million Einwohner, Belgien folgt mit 147. Auch Israel spielt in der Spitzenliga (118/1 Mio.) und in Spanien sind es fast doppelt so viele wie hierzulande (62).  

Trotz flächendeckender Gesundheitsinfrastruktur fanden im Jahr 2021 in Deutschland nur 33 Studien pro 1 Million Einwohner statt. Das könnte den Bedeutungsverlust im internationalen Vergleich weiter verschärfen. Damit drohen Wissen, Arbeitsplätze und Kapital verloren zu gehen, das zur Entwicklung weiterer Innovationen eingesetzt werden könnte.  

Gesundheitswesen: Digitalisierung umsetzen

Das zu ändern, wäre gar nicht schwer: Viele Länder machen das sehr erfolgreich sehr anders als Deutschland. Es gibt beim Blick über die Grenzen jede Menge Masterpläne, die man nur abschreiben müsste. Und umsetzen.

Wie es gehen kann, zeigt Dänemark. Die Nordeuropäer haben sich zum Ziel gesetzt, weltweit führend bei der Durchführung von dezentralen klinischen Studien (Decentralized Clinical Trials, DCT) zu werden. Das sind Studien, die durch Telemedizin bzw. mobile oder lokale Gesundheitsdienstleister durchgeführt werden. Sie sind – anders als im klassischen Studien-Setting – nicht an einen spezifischen Ort gebunden. Sie setzen auf das Potenzial der Digitalisierung.

Ihnen gehört die Zukunft: Sie gelten als schneller in der Durchführung, sie benötigen weniger Personal (Fachkräftemangel!) und dürften auch günstiger sein. Die dänischen Erfolgsfaktoren sind ein stark digitalisiertes Gesundheitssystem, eine hohe Bereitschaft zur Teilnahme an DCTs sowie eine klare Zielsetzung und ein konkreter Fahrplan zur Umsetzung.

Grafik: Pharma-Fakten.de

Fahrplan zurück an die Spitze  

Und: Andere Länder sind schneller. „Die Fähigkeit, Studien an den beteiligten Zentren schnellstmöglich durchzuführen, bildet den Kern erfolgreicher Arzneimittelentwicklung im ´race to market`“, heißt es in der vfa-Veröffentlichung. Denn klinische Studien kosten viel Geld; sie sind in den Milliarden-Summen, die für die Entwicklung neuer Arzneimittel investiert werden müssen, der größte Batzen. Entsprechend groß ist das Interesse der Unternehmen, bei den Stellschrauben zu drehen, die Studien verkürzen, ohne dass dabei die wissenschaftliche Qualität und die Sicherheit leidet.

Dazu gehört in Deutschland die Bürokratie: Es gibt kein Mehr an Sicherheit, wenn eine zweistellige Zahl an Ethikkommissionen ein und dasselbe überprüfen – der deutsche Standort braucht eine länderübergreifende Harmonisierung. Das gleiche gilt für den Datenschutz. Beklagt wird auch, dass hierzulande zu wenig über den Nutzen von Studien aufgeklärt wird. Und der Stand der Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen – man traut es sich kaum noch zu schreiben – hilft auch nicht.

Noch gilt: „Deutschland beheimatet erfolgreiche Pharma- und Chemieunternehmen sowie Partner in der medizinischen und industriellen Biotechnologie und kann in der Biotechnologie auf eine hervorragende Forschungslandschaft aufbauen“, so der Zukunftsrat des Bundeskanzlers. Damit das so bleibt, muss die Bundesrepublik nun aber dringend vom Reden ins Machen kommen.   pharma-fakten.de