Facharzttermine sind in Baden-Württemberg für viele gesetzlich Versicherte schwer zu bekommen: 22 Prozent der Patienten warten länger als vier Monate auf eine fachärztliche Behandlung. 8 Prozent der Befragten sogar mehr als ein halbes Jahr. Foto: Racle Fotodesign/stock.adobe.com

Forsa-AOK-Umfrage: 68 Prozent der Deutschen würden freie Arztwahl gegen schnellere Termine tauschen

Eine repräsentative forsa-Umfrage unter 8583 Befragten im Auftrag des AOK-Bundesverbandes zeigt, wie groß der Problemdruck in der Bevölkerung bei der Verfügbarkeit von Facharztterminen ist: 68 Prozent der Deutschen würden die freie Facharztwahl gegen einen schnelleren Termin beim Facharzt tauschen, der nach einem Besuch des Hausarztes vermittelt wird. Nur 29 Prozent der Befragten sprechen sich für die weiterhin freie Facharztwahl aus, auch dann, wenn diese mit längeren Wartezeiten verbunden wäre.

Hausärzte sollen durchs Gesundheitssystem leiten

Die forsa-Umfrage zielt auf die Erhebung eines Stimmungsbildes in der Bevölkerung zum Primärversorgungssystem, das von der AOK-Gemeinschaft befürwortet wird und als Ziel im Koalitionsvertrag der neuen Regierung formuliert wurde. In diesem System würden die Hausarztpraxen in den meisten Fällen als erste Anlaufstelle für Patienten fungieren, um diese zielgerichtet und effizient durch das System zu leiten.

Ein weiterer Bestandteil des Primärversorgungsansatzes, welcher der Umfrage zufolge auf breite Zustimmung in der Bevölkerung stößt, ist das Vorhaben, anderen Gesundheitsberufen mehr Aufgaben in der Gesundheitsversorgung zu übertragen. Laut forsa-Umfrage finden dies 68 Prozent der Befragten sehr gut oder eher gut. Die AOK-Vorstandsvorsitzende Dr. Carola Reimann sagt: „Diese Ergebnisse sollten der neuen Regierung Mut machen, das Primärversorgungssystem durch echte Strukturreformen konsequent umzusetzen. Damit könnten einige der drängendsten Probleme in der ambulanten Versorgung gelöst werden.“

Als Ergebnis würde ein Primärversorgungssystem Reimann zufolge für mehr Patientenorientierung und einen besseren Zugang sorgen. „Außerdem würde es dabei helfen, die zahlreichen doppelten oder überflüssigen Untersuchungen zu stoppen, die angespannte Situation bei der Terminvergabe an GKV-Versicherte in den Griff zu bekommen, und es würde insgesamt zu einem effizienteren Einsatz von Beitragsmitteln führen, zu dem die Politik dringend wieder zurückfinden muss.“

Mehrheit der GKV-Versicherten hat Diskriminierung bei Terminvergabe erlebt

Besonderen Handlungsbedarf sieht die AOK-Gemeinschaft auch beim Thema Diskriminierung von GKV-Versicherten bei der Terminvergabe. So gaben im Rahmen der forsa-Umfrage 56 Prozent der GKV-Versicherten an, schon einmal erlebt zu haben, bei der Terminvergabe gegenüber Privatversicherten benachteiligt worden zu sein. Die Mehrheit davon hat dies mit 43 Prozent bei der telefonischen Terminvergabe erlebt, gefolgt von 28 Prozent bei der Online-Terminvergabe.

17 Prozent der gesetzlich krankenversicherten Befragten haben zudem angegeben, nur deswegen schon einmal zeitnah einen Arzttermin bekommen zu haben, weil sie zusätzlich oder alternativ eine Selbstzahler- oder IGEL-Leistung gebucht haben. Reimann: „Das verstößt ganz klar gegen alle Spielregeln und darf so nicht mehr stattfinden. Mit der Reform der ambulanten Versorgung muss die neue Regierung auch die Probleme bei der Terminvergabe an GKV-Versicherte in den Griff bekommen.“ Es könne nicht sein, dass sich für die GKV-Versicherten die Beitragsspirale immer weiter nach oben drehe, gleichzeitig aber Termine bevorzugt an Privatversicherte vergeben oder Terminkapazitäten, die für gesetzlich Krankenversicherte vorgesehen sind, an vermeintlich freiwillige Zuzahlungen gebunden werden.

AOK will verbindliches, standardisiertes Ersteinschätzungsverfahren

Ziel müsse es laut Reimann sein, dass GKV-Versicherte, die eine dringliche oder komplexere medizinische Versorgung benötigen, diese auch sicher und rechtzeitig erhalten. Um sicherzustellen, dass sich die Terminvergabe künftig ausschließlich an medizinischem Behandlungsbedarf und Dringlichkeit orientiert, spricht sich die AOK-Gemeinschaft flankierend zur Primärversorgung für ein verbindliches, standardisiertes Ersteinschätzungsverfahren aus sowie für den Ausbau der Terminvermittlungsstellen der Kassenärztlichen Vereinigungen und eine verpflichtende Terminmeldung freier Termine durch Vertragsärzte. Dadurch, so Reimann, könne mehr Transparenz hinsichtlich freier Kapazitäten erreichen werden.

AOK-Positionen zur Primärversorgung: Die AOK-Gemeinschaft sieht in der Etablierung der Primärversorgung ein Transformationsprojekt, das in der kollektiven Regelversorgung umgesetzt werden sollte. Demnach sollten auf Bundesebene Mindeststandards vereinbart, auf regionaler Ebene aber Spielräume für die regional Verantwortlichen aufgrund der schon jetzt sehr unterschiedlichen Versorgungslagen eingeplant werden. Die Hausarztzentrierte Versorgung muss nach den Vorstellungen der AOK ein freiwilliges Angebot werden, mit dem die Vertragspartner ergänzende oder auch ersetzende Versorgungsangebote entwickeln können.

Baden-Württemberg: Facharzttermine mit langer, Hausarzttermine mit kurzer Wartezeit

Facharzttermine sind in Baden-Württemberg für viele gesetzlich Versicherte schwer zu bekommen: Mehr als jeder fünfte Patient (22 Prozent) wartet länger als vier Monate auf eine fachärztliche Behandlung. 8 Prozent der Befragten sogar mehr als ein halbes Jahr. Das zeigt eine repräsentative Umfrage des Instituts Civey im Auftrag der AOK Baden-Württemberg, an der rund 1000 Personen aus dem Land teilgenommen haben.

Im Kontrast dazu steht die hausärztliche Versorgung: 65 Prozent der Befragten erhalten innerhalb einer Woche einen Termin beim Hausarzt, fast 80 Prozent innerhalb von zwei Wochen. Besonders erfreulich: Rund 14 Prozent können sogar noch am selben Tag in die Praxis kommen.

„Diese Unterschiede zeigen, wie wichtig eine verlässliche Primärversorgung ist“, sagt Johannes Bauernfeind, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg.

„Wie wir an der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) sehen und uns Ergebnisse aus der Versichertenbefragung zeigen, erhalten unsere Versicherten relativ kurzfristig und problemlos einen Termin bei ihrem Hausarzt. Im Fokus steht für uns die bedarfsgerechte und zielgerichtete Einsteuerung in die fachärztliche Versorgung. Im Resultat gelingt dies – auch durch eine schnellere Vermittlung bei einer entsprechend hohen Dringlichkeit“, so Bauernfeind weiter.

Johannes Bauernfeind, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg. Foto: AOK Baden-Württemberg

Patienten wünschen sich schnelle Termine, Zeit und Nähe

Laut Umfrage gehören schnelle Terminvergaben zu den drei wichtigsten Anliegen der Versicherten: 94 Prozent bezeichnen sie als „sehr wichtig“ oder „eher wichtig“. Ebenfalls sehr hoch ist der Wunsch nach ausreichend Zeit im Arztgespräch (97 Prozent) – ein deutlicher Hinweis auf den Bedarf an „sprechender Medizin“. Zu den drei wichtigsten Anliegen der Befragten gehört auch die wohnortnahe Versorgung (78 Prozent).

„Die Menschen wollen, dass sich ihre Ärztinnen und Ärzte Zeit nehmen. Die medizinische Versorgungslandschaft muss deshalb so gestaltet werden, dass es ausreichend Zeit für das direkte Patientengespräch gibt. Dieses ist essenziell, weil es Vertrauen schafft, eine präzisere Diagnostik ermöglicht und die Grundlage für individuelle, ganzheitliche Therapien bildet“, so Bauernfeind. Die HZV, wie sie in Baden-Württemberg etabliert ist, ermögliche dies durch längere Gesprächszeiten und multiprofessionelle Teams, etwa mit Versorgungsassistentinnen (VERAHs) oder Physician Assistants (PA).

Früh in die richtige Versorgung und zur Gesundheitsfürsorge leiten

Neben der Entlastung von Facharztpraxen gehe es laut Bauernfeind auch um eine verbesserte Steuerung: „Unser Ziel ist es, Patientinnen und Patienten frühzeitig und zielgerichtet in die richtige Versorgungsebene zu leiten.“ Die Ergebnisse der Umfrage unterstreichen die Bedeutung strukturierter Versorgungsformen – ein Ansatz, den die AOK Baden-Württemberg mit ihren seit 2008 aufgebauten Haus- und Facharztverträgen im Südwesten bereits erfolgreich verfolgt.

Ein weiteres Ergebnis der Umfrage: Knapp 20 Prozent der Befragten haben im vergangenen Jahr keine einzige Vorsorgeuntersuchung wahrgenommen. Für die AOK Baden-Württemberg ein Zeichen dafür, dass die Gesundheitskompetenz weiter gestärkt werden muss. Bauernfeind schlägt vor, bereits früh anzusetzen: „Wir fordern ein Schulfach ,Gesundheit‘ in Baden-Württemberg. Die Förderung der Gesundheitskompetenz muss sich aber über alle Lebensphasen erstrecken und insbesondere die vulnerablen Gruppen adressieren.“

GKV braucht nachhaltige finanzielle Stabilisierung

Um regionale Versorgungsmodelle weiter auszubauen und eine qualitativ hochwertige Versorgung sicherzustellen, fordert die AOK Baden-Württemberg eine nachhaltige Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Die angekündigten Sofortmaßnahmen der neuen Bundesgesundheitsministerin seien richtig. „Aber nur auf kurzfristige Hilfen können wir uns nicht verlassen. Was wir brauchen, ist keine Notoperation, sondern eine nachhaltige Stabilisierung für die GKV“, sagt Bauernfeind.     pm