In einer EU-Richtlinie ist das „Recht auf Vergessenwerden“ verankert, das Krebsüberlebende vor Diskriminierung schützen soll – etwa indem festgelegt wird, welche Gesundheitsfragen vor dem Abschluss einer Lebensversicherung gestellt werden dürfen. In Deutschland gibt es das (noch) nicht – und so werden junge, vom Krebs geheilte Menschen vielfach benachteiligt. Foto: Solid photos/stock.adobe.com

Krebs bei jungen Menschen: Ein Drittel der Geheilten beklagt Benachteiligungen und Diskriminierung

16.500 junge Erwachsene pro Jahr erhalten in Deutschland eine Krebsdiagnose – mehr als 80 Prozent von ihnen können dank medizinischer Innovationen geheilt werden. Doch ein Drittel der Betroffenen klagt selbst Jahrzehnte nach der Diagnose über Benachteiligungen: Ihnen werden beispielsweise Versicherungsabschlüsse, Kredite oder Verbeamtungen verwehrt.

Dies will die „Deutsche Stiftung junge Erwachsene mit Krebs“ (DSfjEmK) ändern. Auf dem Hauptstadtkongress (HSK) erneuerte sie ihre Forderung nach einem „Recht auf Vergessenwerden“, wie es in anderen Ländern verankert ist.

Ein ganz normaler Lebenslauf nach der Krebsdiagnose

Eine Gedankenreise: Du bist 16, als Dich die Diagnose umhaut; Hodgkin-Lymphom, eine Blutkrebsart, die unbehandelt zum Tod führt. Zum Glück hat die Forschung nicht geschlafen – im Gegenteil: Mit einer Chemotherapie und einem Antikörper stehen die Heilungschancen bei 98,6 Prozent. Du kämpfst, Du bist so tapfer, ein Team von Ärzten und Pflegern, Deine Familie, Deine Freunde stehen Dir zu Seite. Dann die Behandlung, nur wer sie durchgemacht hat, weiß, was Du durchmachst. Schließlich die ersehnte Nachricht: Du bist krebsfrei, kannst Dein Abitur machen, versuchst, Deine Seele von dem Alptraum freizustrampeln. Jedes Jahr eine Kontrolle – das ist es.

Von wegen.

Dein Leben geht weiter. Eine Berufsausbildung, das erste Geld und die Frage: Welche Versicherungen sollte ich abschließen? Da lernst Du das erste Mal, dass das System nicht vergessen will. Nein, keine Lebensversicherung, keine Kredite für eine Wohnung, nicht mal eine Reiserücktrittsversicherung. Oder zu horrenden Prämien. Du musst Dir Dinge anhören wie: „Niemand versichert ein brennendes Haus.“ Ein brennendes Haus.

Jahre später: Familienplanung. Doch die Krankheit hat Spuren hinterlassen. Wieder ein Rückschlag. Aber ihr wollt Kinder, also bleibt die Adoption. Doch egal, wie lange Du schon krebsfrei bist: Eine Adoption soll auch nicht sein. Vielleicht kommt der Krebs wieder und wer sichert dann die Zukunft des Kindes?

Durchatmen. Du lernst: Du bist nicht krank, aber aus Sicht des Systems offenbar zu krank. Der Krebs ist weg, aber er wirft einen langen Schatten.

Viele Benachteiligungen für junge Menschen mit Krebs

Auf dem Satellitensymposium der DSfjEmK in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Onkologie und Hämatologie (DGHO) wird klar: Es sind keine Einzelfälle, es hat System. Nach einer Umfrage sind es 30 Prozent der Überlebenden einer Krebserkrankung, die schon einmal Benachteiligungen erlebt haben; 13,5 Prozent von ihnen mehr als fünf Jahre nach der Diagnose.

Luca? Keine Verbeamtung wegen des hohen Risikos einer frühen Dienstunfähigkeit – ihre Krebserkrankung ist zu diesem Zeitpunkt 10 Jahre her. Miriam? Kein Abschluss einer Risikolebensversicherung zur Absicherung eines Hauskredits 12 Jahre nach ihrer Leukämieerkrankung. Michelle, die auf dem Symposium ihre Geschichte schilderte, scheiterte an dem Versuch, eine Berufsunfähigkeitsversicherung abzuschließen – die Krebserkrankung als Ausschlusskriterium, 11 Jahre nach ihrer erfolgreichen Therapie.

„Der Raucher, der 20 Jahre 2 Päckchen geraucht hat“, sagt Professor Dr. Andreas Hochhaus von der DGHO, „hat keine Nachteile beim Abschließen einer Versicherung, obwohl er ein erhebliches Risiko auf Herzinfarkt oder Lungenkrebs hat. Aber ein junger Mensch mit seiner sehr, sehr guten Chance, nicht wieder zu erkranken, hat Nachteile. Das ist der große Widerspruch im System.“

„Right to be Forgotten“: Deutschland hinkt hinterher

Das muss nicht sein. In anderen Ländern gibt es ein Recht auf Vergessenwerden. Mit dem „Right to be Forgotten“, das erstmals auch in einer EU-Richtlinie verankert ist, sollen Krebsüberlebende vor Diskriminierung geschützt werden – etwa indem festgelegt wird, welche Gesundheitsfragen vor dem Abschluss einer Lebensversicherung gestellt werden dürfen; oder indem geregelt ist, dass digitale Informationen mit Personenbezug nicht dauerhaft gespeichert, sondern nach einer bestimmten Zeit gelöscht werden müssen.

In Europa gibt es verschiedene Modelle und Fristen, erläuterte Professorin Dr. Inken Hilgendorf, Kuratoriumsvorsitzende der Stiftung. Spanien, Frankreich, Italien, Belgien oder Niederlande – sie alle haben ein „Right to be Forgotten“ gesetzlich verankert. In Deutschlang gibt es eine solche Regelung nicht. „Ein Armutszeugnis“, findet Hilgendorf. Ihre Forderung: „Die sofortige Anerkennung und Umsetzung des Rechts auf Vergessenwerden für Überlebende, die seit 5 Jahren krebsfrei sind.“ Frankreich hat im Jahr 2016 ein solches Gesetz mit einer Frist von zehn Jahren eingeführt, hat sie aber mittlerweile auf fünf Jahre verkürzt.

Warum es in Deutschland nicht klappt? Professor Dr. Hochhaus hat eine Vermutung: „Deutschland ist in der sozialrechtlichen Denke sehr konservativ – konservativ im Sinne von altbacken, im Sinne eines ,Das-war-schon-immer-so‘.“ Und das bedeutet, „dass auf das medizinische Stigma das soziale Stigma folgt“, sagt Professorin Hilgendorf. Das zu ändern ist überfällig.

Weiterführende Links:

DGHO: Recht auf Vergessenwerden

Junge Erwachsene mit Krebs