Da Hausärzte und ambulante Dienste überlastet sind, wird immer häufiger der Notruf gewählt – eine enorme Belastung für die Rettungskräfte, von denen 44 % angeben, am Limit zu arbeiten. Foto: Chalabala/stock.adobe.com
Studie: Wird das deutsche Rettungswesen zum Notfall?
Den Notruf wählen, Minuten später ist der Rettungsdienst da. Wird das auch in Zukunft so sein? Vor allem die explodierende Zahl an Bagatelleinsätzen, in denen kein Notfall vorliegt, bringt die Rettungskräfte an ihre Grenzen. Wohin führt das? Wie sieht die Zukunft des deutschen Rettungswesens aus?
Diese Frage hat eine groß angelegte Studie untersucht, durchgeführt vom Institut für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement der Sigmund Freud PrivatUniversität und von der opta data Zukunfts-Stiftung. Mit über 4000 Teilnehmern – Notfallsanitätern, Notärzten und weiteren Akteuren – lässt die vom Zukunftspsychologen und Soziologen Prof. Dr. Thomas Druyen geleitete Studie jene zu Wort kommen, die täglich Menschenleben retten.
Ihr Appell an Politik und Gesellschaft: Es muss endlich mehr getan werden, um die Rettung zu retten.
Alternde Bevölkerung belastet Notrufdienste
Der gesellschaftliche Wandel trifft das Rettungswesen mit voller Wucht: 83 % der Befragten erklären so die steigende Zahl von Notrufen. Die Gesellschaft wächst und wird älter, die Zahl einsamer und multimorbider Menschen nimmt zu. Hinzu kommt eine veränderte Mentalität: Viele Menschen geraten bei Beschwerden schneller in Panik und wissen selten, wo sie Hilfe erhalten. Da Hausärzte und ambulante Dienste überlastet sind, wird immer häufiger der Notruf gewählt – eine enorme Belastung für die Rettungskräfte.
44 % geben an, am Limit zu arbeiten. Mit vielen weiteren Zahlen belegt die Studie, dass die Lage kritisch, die Motivation der Rettungskräfte aber hoch ist: 67 % gehen ihrem Beruf gern nach, und 75 % blicken optimistisch in die Zukunft – vorausgesetzt, es wird jetzt gehandelt. Hierzu schlagen die Befragten zahlreiche Lösungen vor.
Verbesserte Patientensteuerung und mehr Aufklärung
Eine dieser Lösungen ist eine verbesserte Patientensteuerung: In einer digitalen, mit Krankenhäusern und anderen Einrichtungen vernetzten Notrufleitstelle wird KI-gestützt entschieden, ob ein Rettungsteam ausrückt oder der Patient weitergeleitet wird.
Auch am Berufsbild kann angesetzt werden: Der steigenden Zahl an Einsätzen wird mit weiterem Personal begegnet, in dessen Ausbildung stärker auf psychologische und digitale Kompetenzen gesetzt wird. Tragbare Diagnostikgeräte, Drohnen, Virtual Reality und viele weitere Technologien können die Rettungskräfte wirkungsvoll unterstützen.
Will man jedoch die Zahl der Einsätze verringern, ist gesellschaftliches Gesundheitsbewusstsein gefragt – wer mehr über Gesundheit, Versorgungstrukturen und die Aufgaben des Rettungswesens weiß, wird nicht sofort den Notruf wählen. „Wenn wir der Rettung helfen wollen, muss sich die Bevölkerung an dieser Unterstützung beteiligen. Die Rettung wird besser, je mehr die Bürgerinnen und Bürger mitmachen“, so Druyen.
Notfallpatienten zur optimalen Versorgung überstellen
Die „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ hat gemeinsam mit Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ihre Empfehlungen zur Reform des Rettungsdienstes vorgestellt. Der stellvertretende Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Jens Martin Hoyer, lobt die Vorschläge der Kommission: „Eine umfassende Reform des Rettungsdienstes ist überfällig, denn hier liegt aktuell Einiges im Argen.“
Die Vorschläge der Regierungskommission würden, so Hoyer, die richtigen Themen aufgreifen und könnten die Qualität des Rettungsdienstes entscheiden verbessern. „Wichtig ist zum Beispiel, dass Patientinnen und Patienten mit Schlaganfällen oder Herzinfarkten nicht mehr in das nächstbeste Krankenhaus transportiert werden, wie es leider immer noch viel zu oft vorkommt. Stattdessen sollten sie in Kliniken mit adäquater personeller und technischer Ausstattung für die Behandlung dieser Notfälle versorgt werden“, so Hoyer.
Doch wer soll das bei Notfällen schnell und exakt organisieren? „Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir eine bedarfsgerechte Steuerung der Patientinnen und Patienten durch Integrierte Leitstellen als zentrale Anlauf- und Koordinierungseinrichtungen. Sie sollten mit einem einheitlichen technischen System arbeiten und Notfälle sektorenübergreifend und über Landesgrenzen hinweg an die richtige Stelle steuern“, so Hoyer.