Wenn die körpereigene Immunabwehr bei Multipler Sklerose die Ummantelung von Nervenfasern zerstört (rechts im Bild), entstehen im Gehirn und Rückenmark Entzündungen. Die MS-Symptome können sehr unterschiedlich sein. Foto: freshidea/stock.adobe.com

Multiple Sklerose: So beeinflusst ein neues Verständnis der chronischen Erkrankung die Therapien

Entzündungsaktivitäten spielen beim Verlauf einer Multiple-Sklerose-Erkrankung eine wesentliche Rolle. Bei MS handelt es sich um eine Autoimmunerkrankung, bei der sich die Immunabwehr gegen die Ummantelung von Nervenfasern richtet und diese zerstört. Dadurch kommt es in Gehirn und Rückenmark zu Entzündungen, die sehr unterschiedliche Symptome auslösen können. Was es an neuen Erkenntnissen zum Thema Multiple Sklerose und ihren Verläufen und Therapien gibt, stand im Fokus der Vital-Region-Lesertelefonaktion SPRECHZEIT.

Lagen bisher eher schubförmige Verläufe und die damit einhergehenden akuten Entzündungsprozesse im Blickpunkt, liegt die Aufmerksamkeit in jüngerer Zeit vermehrt auf dem chronisch schwelenden Entzündungsprozess. Er trägt wesentlich zum Fortschreiten der Erkrankung unabhängig von Schüben (MS-Progression) bei. Was dies für das Krankheitsverständnis und die Behandlung von MS bedeuten kann. Hier die wichtigsten Fragen und Antworten zum Nachlesen:

Was sind die neuesten Erkenntnisse über Multiple Sklerose, und wie hat sich unser Verständnis der Krankheit verändert?

Dr. med. Christoph Grothe: Das Wissen über die Erkrankung hat sich grundlegend verändert. Früher lag der Fokus vor allem auf akuten Krankheitsschüben. Heute ist bekannt, dass auch chronisch schwelende Entzündungsprozesse das Voranschreiten der MS (Progression) beeinflussen. Diese Entzündungen sollten frühzeitig erkannt und genau beobachtet werden, um die Krankheit besser einschätzen zu können und die passende Behandlungsmethode zu finden.

Welche das ist, hängt stark von den individuellen Besonderheiten des Immunsystems ab, die jeder Betroffene mitbringt. Insgesamt erfordert dieses neue Verständnis von MS eine engere Überwachung der Erkrankung durch den Neurologen bzw. die Neurologin – auch wenn gerade keine Schübe auftreten.

Welche Folgen hat die chronisch schwelende Entzündung für den Krankheitsverlauf?

Dr. med. Christoph Grothe: Die chronisch schwelende Entzündung spielt eine entscheidende Rolle im Verlauf der Erkrankung. Auch wenn diese Prozesse sich schleichend entwickeln, können sie auf Dauer ebenfalls zu Einschränkungen auf körperlicher, geistiger und psychischer Ebene führen.

Anders als die akuten Schübe läuft diese Entzündung oft unbemerkt ab und verursacht langfristig kontinuierliche Schäden im Nervensystem. Sie führt dazu, dass Nervenzellen nach und nach beeinträchtigt oder zerstört werden, was sich in fortschreitenden Symptomen und Einschränkungen äußert.

Was unterscheidet den akuten vom chronisch schwelenden Entzündungsprozess?

Dr. med. Christoph Grothe: Bei einem Schub können Beschwerden plötzlich oder auch langsamer auftreten. Die Verschlechterung ist für die Betroffenen aber meist deutlich spürbar, etwa in Form von Bewegungseinschränkungen oder schwerer Fatigue. Beim chronisch schwelenden Prozess gehen diese Veränderungen oft langsamer und schleichender vonstatten, weshalb sie oftmals unerkannt bleiben. Es werden dann oft andere Erklärungen herangezogen: das Alter, eine andere Erkrankung, Lebensereignisse.

Woran lässt sich unterscheiden, ob die Beschwerden auf normale Alterungsprozesse zurückgehen oder auf eine chronisch schwelende Entzündung hinweisen?

Dr. med. Christoph Grothe: Oftmals gibt der Zeitrahmen einen Hinweis, in dem Veränderungen zu beobachten sind. Gehen Mobilität, Leistungsfähigkeit oder Belastbarkeit über viele Jahre hinweg kontinuierlich zurück, ist eher von einer altersbedingten Progression auszugehen. Werden solche Entwicklungen über einen kürzeren Zeitraum, also einige Wochen oder Monate beobachtet, sollte man genauer hinsehen. Gemeinsam mit dem Neurologen bzw. der Neurologin kann man durch Untersuchungen und bildgebende Verfahren (zum Beispiel MRT) nach der Ursache suchen.

Was sind Anzeichen für eine MS-Progression?

Dr. (uni. med. Teheran) Nastaran Mahboobi: Das Fortschreiten der MS (Progression) kann sich durch verschiedene Anzeichen zeigen. Typische Hinweise können zum Beispiel eine langsam verschlechterte, eingeschränkte Gehstrecke, mehr Steifheit in den Beinen, eine Beeinträchtigung der Feinmotorik, geringere körperliche oder psychische Belastbarkeit, Konzentrationsstörungen, chronische Müdigkeit, Blasenprobleme oder eine Gleichgewichtsstörung sein.

Wichtig ist jedoch zu wissen, dass eine Progression nicht unbedingt mit einem Schub zusammenhängt. Betroffene sollten daher genau auf solche subtilen Symptome achten, sie dokumentieren und mit dem behandelnden Neurologen bzw. der Neurologin besprechen.

Was sind Anzeichen, dass meine schubförmige MS sich in eine SPMS gewandelt haben könnte?

Dr. (uni. med. Teheran) Nastaran Mahboobi: Bei einer sekundär progredienten Multiplen Sklerose (SPMS) verschlechtert sich der Zustand der Betroffenen langsam und stetig, überwiegend ohne dass neue Krankheitsschübe auftreten. Diese Form kann sich im Laufe der Zeit aus der schubförmigen MS entwickeln. Um den Krankheitsverlauf gut beobachten und Anzeichen einer SPMS wahrnehmen zu können, werden regelmäßig neurologische Untersuchungen durchgeführt. Außerdem werden weitere Tests sowie MRT-Aufnahmen (Magnetresonanztomografie) von Gehirn und Rückenmark gemacht, um Veränderungen frühzeitig zu erkennen.

Wie lässt sich der chronisch schwelende Entzündungsprozess momentan behandeln?

Dr. (uni. med. Teheran) Nastaran Mahboobi: Die Therapie der Multiplen Sklerose hat sich in den letzten 15 Jahren geradezu revolutionär entwickelt – Schübe können heutzutage sehr effektiv behandelt werden. Allerdings kann die schubunabhängige Verschlechterung, die durch chronisch schwelende Entzündungen bedingt ist, noch nicht ausreichend behandelt werden.

Diese Entzündung findet vorwiegend im Gehirn statt und noch gibt es keine Medikamente, die klein genug sind, um ins Gehirn zu gelangen und dort direkt zu wirken. An der Entwicklung solcher Medikamente wird aktuell aber mit Hochdruck geforscht.

Ist es sinnvoll, meine Symptome zu dokumentieren? Welche Vorgehensweise bietet sich dafür an?

Nicole Rüssel: Ein systematisches Monitoring der Symptome hilft zu erkennen, ob in bestimmten Situationen wiederkehrende Symptome auftreten. Dazu reicht es aus, kurze Stichpunkte zur Situation und den beobachteten Symptomen aufzuschreiben und beispielsweise in einem Symptomtagebuch festzuhalten. Der behandelnde Neurologe bzw. die Neurologin kann anhand der Aufzeichnungen Muster erkennen und – falls nötig – therapeutisch gegensteuern, also etwa die Behandlungsmethode anpassen.

Was kann ich tun, um meine Lebensqualität mit MS zu verbessern?

Nicole Rüssel: Es mag banal klingen und sich nach Ratgeberweisheit anhören, aber versuchen Sie, das Leben trotz der Einschränkungen durch die Erkrankung zu genießen. Die Ausschüttung von Glückshormonen hat enormen Einfluss auf die Lebensqualität. In Verbindung mit regelmäßiger Medikation, geregelter Lebensführung, ausgewogener Ernährung und ein wenig Sport stellen Sie die Weichen für ein erfülltes Leben mit und trotz MS.    pm

Mehr zum Thema unter www.ms-perspektivwechsel.de

Die Experten in der Sprechzeit waren:

  • Dr. med. Christoph Grothe; Facharzt für Neurologie und Intensivmedizin, Schwerpunkt Neuroimmunologie, Niederkassel
  • Dr. (uni. med. Teheran) Nastaran Mahboobi; Fachärztin für Neurologie, Schwerpunkt Multiple Sklerose, Köln
  • Nicole Rüssel; MS-Nurse, Neuroimmunologische Ambulanz, St. Vincenz Krankenhaus Paderborn