Allein mit den Folgen von Long COVID? Abgesehen davon, dass es bislang keine ursächlich wirksamen Therapien für Long COVID (LC) gibt, berichten 85 % der befragten LC-Patienten, dass medizinische oder soziale Ansprechpersonen nicht ausreichend über das Krankheitsbild informiert sind. Foto: Black Brush/stock.adobe.com

Mit Long COVID alleingelassen? Patienten empfinden ihre Versorgungssituation als problematisch

Menschen, die unter Long COVID leiden, empfinden ihre Versorgungssituation als problematisch. Als Hauptursachen beschreiben die Patienten unzureichende Versorgungsstrukturen, mangelndes Wissen über die Erkrankung sowie die Fehleinschätzung als psychosomatische Beschwerden.

Das zeigen Forschungsergebnisse der Techniker Krankenkasse (TK), der Deutschen Gesellschaft für Patientensicherheit gGmbH (DGPS) und der Hochschule Fresenius.

Keine Therapien gegen die Ursache und wenig Fachwissen

Seit Juni 2023 haben Long-COVID (LC)-Betroffene und ihre Angehörigen die Möglichkeit, ihre Versorgungserfahrungen über eine Meldeplattform von TK und DGPS zu berichten. Erste Daten dieses vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Projekts wurden unter der Leitung von Prof. Dr. Sabine Hammer, Professorin für Sozialforschung im Fachbereich Gesundheit & Soziales an der Hochschule Fresenius (HSF), in Zusammenarbeit mit den Kooperationspartnern ausgewertet. Von den über 1200 Meldungen, die bis Ende Dezember 2023 eingegangen waren, wurden 264 ausführliche und besonders aussagekräftige Erfahrungsberichte systematisch analysiert. Die Auswertung konzentrierte sich auf Versorgungsbarrieren und deren Auswirkungen aus der Perspektive der Betroffenen oder ihrer Angehörigen.

Die Analyse zeigt, welche Versorgungsbarrieren Menschen mit LC erleben. Abgesehen davon, dass es bislang keine ursächlich wirksamen Therapien für LC gibt, berichten 85 Prozent der Befragten, dass medizinische oder soziale Ansprechpersonen nicht ausreichend über das Krankheitsbild informiert sind. 80 Prozent geben an, dass ihre Beschwerden nicht ernst genommen und/oder als psychosomatisch eingestuft wurden. Infolgedessen erhalten die Betroffenen häufig Behandlungen, die aus ihrer Sicht nicht zielführend sind: Insbesondere Sport und Bewegung, die bei psychischen Erkrankungen empfohlen werden, führen nach Berichten vieler LC-Betroffener zu einer, mitunter dramatischen, Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes.

Zu wenig Spezialambulanzen und Nachteile bei Sozialleistungen

Spezialambulanzen für postvirale Syndrome sind für die Mehrheit der Befragten entweder nicht erreichbar, nehmen keine neuen Patienten auf oder haben Wartelisten von bis zu zwei Jahren. Die fehlende Anerkennung der Erkrankung führt einigen Berichten zufolge auch dazu, dass Sozialleistungen wie Pflege und Rente nicht bewilligt werden.

Die Analyse bestätigt bisherige Forschungsergebnisse und gibt Anhaltspunkte, dass eine zügige Aus- und Weiterbildung aller beteiligten Akteure sowie die Entwicklung und der Ausbau spezifischer Versorgungsangebote dringend erforderlich sind, um LC-Betroffenen eine angemessene Versorgung zu ermöglichen.

Ein Zehntel der Infizierten kämpft mit Long COVID

Etwa 10 Prozent aller Sars-CoV-2-Infizierten leiden an postinfektiösen Beschwerden. LC beziehungsweise ein Post-COVID-19-Zustand kann sämtliche Organsysteme betreffen und zur vollständigen Pflegebedürftigkeit führen. 10 bis 50 Prozent aller Betroffenen erfüllen die Diagnosekriterien für eine Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS). Behandlungsempfehlungen beschränken sich bislang auf Belastungsmanagement sowie symptomatische und psychologische Maßnahmen. Erste Untersuchungen der Betroffenenperspektiven geben Hinweise auf eine unzureichende Anerkennung und Versorgung der Erkrankung.

Im Mai 2024 trat die erste Versorgungsrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) für LC in Kraft. Sie soll eine wichtige Grundlage für die Behandlungsentscheidungen der Ärzte sein und die bedarfsgerechte Nutzung bestehender ambulanter Strukturen unterstützen.

Probleme online melden

Seit Juni 2023 können Long-COVID-Betroffene und deren Angehörige ihre Versorgungserfahrungen online und erstmals auch telefonisch über ein Berichtsformular der TK und der DGPS melden. Nach Förderung der Aufbauphase im Jahr 2023 durch das BMG wird die Plattform heute von der DGPS und der Firma Inworks weiterbetrieben.

Unter https://patienten-feedback-fuer-patienten.de können Versorgungserfahrungen nach wie vor eingegeben werden. „Mit der Plattform ‚Patientenfeedback für Patientensicherheit‘ wollen wir die Stimme derer stärken, die von Long COVID betroffen sind. Jetzt gilt es, aus ihren Erfahrungen zu lernen“ sagt Dagmar Lüttel, Spezialistin für Patientensicherheit bei der TK. Von den bis Dezember 2023 eingegangenen 1216 Berichten wurden 264 inhaltlich repräsentative Fälle ausgewählt und mittels einer strukturierenden und zusammenfassenden Inhaltsanalyse ausgewertet, um das Erleben der Betroffenen in Bezug auf Versorgungsbarrieren und deren Auswirkungen nachzuvollziehen.

Ergebnisse: Es mangelt an Wissen und Anerkennung

225 Teilnehmende (85 %) berichten, dass Ansprechpersonen, insbesondere Gesundheitspersonal, wenig oder fehlerhafte Informationen zu dem Krankheitsbild haben. Dies wird einerseits darauf zurückgeführt, dass postvirale Erkrankungen bislang unzureichend erforscht sind. Vor allem jedoch erleben die Betroffenen, dass bestehendes Wissen nicht in die medizinische Praxis transferiert wird und in der Medizin falsche Annahmen zu den Ursachen und der Entstehung der Erkrankung vorherrschen.

80 Prozent der Teilnehmenden berichten, dass Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialwesen Long-COVID-Beschwerden nicht anerkennen beziehungsweise fälschlicherweise annehmen, dass es sich um ein psychisches Problem handelt. In der Folge werden die Betroffenen nicht oder falsch behandelt und/oder erhalten keine angemessenen Sozialleistungen. Die Psychologisierung postviraler Symptome wird als stigmatisierend und als Hauptursache für die prekäre Versorgungssituation von Menschen mit Long COVID beschrieben. Dr. Marcus Rall (DGPS) ergänzt: „Das fehlende Ernstnehmen der Symptome bis zur Stigmatisierung betrifft auch das soziale Umfeld der Patienten und ist besonders belastend“.

Zur Diskussion der Versorgungsbarrieren anregen

Im vierten Jahr nach Pandemiebeginn berichten LC-Betroffene von fehlenden Versorgungsstrukturen und kompetenten Ansprechpersonen. Die Generalisierbarkeit der Ergebnisse ist limitiert, die Analyse stützt jedoch die Richtlinie des G-BA und gibt Hinweise, wie diese aus Sicht Betroffener umgesetzt werden kann.

In der Medizin wurden postvirale Syndrome bislang als funktionelle, somatoforme beziehungsweise psychosomatische Erkrankungen definiert. Als Ursachen gelten Störungen der Psyche oder des Verhaltens. In diesem Zusammenhang geben die Daten Anhaltspunkte für eine systematische Stigmatisierung und Diskriminierung der Betroffenen.

Prof. Dr. Sabine Hammer (HSF) betont: „Erkrankte und ihre Beschwerden ernst zu nehmen und Long COVID als schwerwiegende Multisystemerkrankung anzuerkennen, ist die Grundvoraussetzung dafür, dass Menschen mit Long COVID die Chance auf eine angemessene Versorgung bekommen.“

Die Studie ist als Preprint unter https://doi.org/10.5281/zenodo.13088064 veröffentlicht.     pm

Info

Die gemeinnützige Deutsche Gesellschaft für Patientensicherheit (DGPS gGmbH) hat die Aufgabe, die Sicherheit von Patienten und Behandlungsteams zu stärken. Unter anderem betreibt sie dafür gemeinsam mit dem Verband der Ersatzkassen die Lern-Plattform www.mehr-patientensicherheit.de und für Betroffene von Long COVID die Seite Patienten-Feedback für Patientensicherheit. Mit diesen Initiativen werden systematisch Behandlungs-Erfahrungen von Patienten und Angehörigen gesammelt und allen Akteuren des Gesundheitswesens zugänglich gemacht. Mehr dazu unter https://patientensicherheit.de