Vanessa Gerats hat ein Lipödem. Die 30-Jährige macht anderen Betroffenen Mut, offen mit ihrer Erkrankung umzugehen: „Je mehr Menschen Aufklärung betreiben und sich austauschen, umso mehr wird das Bewusstsein in der Öffentlichkeit für das Krankheitsbild geschärft.“ Bildrechte/Foto: medi GmbH & Co. KG
Lipödem und Schwangerschaft: „Ich möchte mit meiner Geschichte aufklären“
Eine Schwangerschaft ist für viele werdende Mütter eine aufregende und erfreuliche Zeit. Allerdings ist sie auch mit körperlichen und hormonellen Veränderungen verbunden. Für Frauen wie Vanessa Gerats, die an einem Lipödem leiden, stellen sich im Vorfeld viele Fragen – und die Erfahrungen, die sie mit Krankheit und Schwangerschaft gemacht hat, will Vanessa Gerats mit anderen Patienten teilen.
Wie kann das Lipödem den Verlauf der Schwangerschaft beeinflussen beziehungsweise die Schwangerschaft das Lipödem? Nehmen die Beschwerden zu? Kann die Therapie mit medizinischer Kompression problemlos fortgesetzt werden? Könnte das Baby die Krankheit erben? Im Interview berichtet Vanessa Gerats, wie sie mit ihrer Lipödem-Diagnose lebt und welchen Einfluss die Erkrankung auf ihre Schwangerschaft hatte. Medizinische Informationen zum Lipödem lesen Sie im Anschluss an das Interview.
Wie ist es Ihnen während der Schwangerschaft ergangen?
Vanessa Gerats: Grundsätzlich gut. In den ersten zwölf Wochen habe ich mich allerdings matt und erschöpft gefühlt – im zweiten Trimester hat das wieder abgenommen. Laut meiner Hebamme ist diese Müdigkeit normal, der Körper passt sich der neuen Rolle als Mutter an: Der Hormonhaushalt verändert sich, die Blutmenge nimmt zu und der Stoffwechsel läuft auf Hochtouren. Gegen Ende des ersten Trimesters hatte ich einen kleinen Lipödem-Schub, bei dem ich zwei Wochen lang verstärkt Schmerzen in meinen Beinen hatte.
Was haben Sie dagegen unternommen?
Vanessa Gerats: Ungeheuer wohltuend war die manuelle Lymphdrainage, die ich einmal pro Woche bekomme. Zusätzlich habe ich selbst das Gewebe regelmäßig massiert – das hat ebenfalls Linderung gebracht.
Seit wann wissen Sie, dass Sie an einem Lipödem leiden?
Vanessa Gerats: Die Diagnose habe ich erst vor drei Jahren im Frühjahr 2020 erhalten. Druck- und Spannungsschmerzen hatte ich allerdings schon seit meiner Pubertät beziehungsweise seitdem ich die Pille verschrieben bekommen habe. Es war auffällig, dass seit der regelmäßigen Einnahme meine Oberschenkel stark an Umfang zunahmen, mein Bauch und die Taille aber gleich blieben – innerhalb von drei Monaten nahm ich zwölf Kilo zu. Klinisch ist es allerdings nicht belegt, dass ein Lipödem durch hormonelle Verhütungsmittel entstehen kann. Das war eine schwere Zeit für mich – ich war einigen Vorurteilen und Anfeindungen meiner Mitschülerinnen ausgesetzt. Leider traute ich mich nicht, die Kleidung zu tragen, die mir gefiel, sondern trug ausschließlich Hosen, die mindestens über die Knie gingen. Mir fehlte mein heutiges Selbstbewusstsein!
Haben Sie außer Druck- und Spannungsschmerzen weitere Beschwerden verspürt?
Vanessa Gerats: Meine Beine wurden vor allem im Winter bei Spaziergängen unheimlich schnell kalt, schmerzten und sind erst Stunden später wieder auf Normaltemperatur gewesen. Ich dachte immer, ich hätte schlichtweg Gewebe, das schlecht durchblutet wird.
„Bei der Diagnose eines Lipödems oder eines Venen- oder Lymphleidens ist Kompression der Schlüssel zu einem befreiteren Leben. Die Erkrankung sollte den Patienten auf keinen Fall einschränken, das zu tun, was er liebt.“
Ralph Fritz, Geschäftsführung von H+P Gesunde Schuhe Orthopädie Schuhtechnik GmbH & Co KG in Pforzheim, Am Mühlkanal 1a
Wie haben Sie die Diagnose Lipödem erhalten?
Vanessa Gerats: Ich war mit meiner Schwägerin in der Sauna und sie hat das Thema sensibel angesprochen, da sie das Krankheitsbild von einer Freundin kannte. Sie meinte, ich hätte so eine schlanke Figur, nur die Beine würden nicht zum Rest des Körpers passen. Zu Hause habe ich sofort im Internet das Krankheitsbild studiert sowie die Therapiemöglichkeiten. Als ich Fotos von Lipödemen im dritten Stadium sah und verstand, dass die Krankheit nicht heilbar ist, war ich schockiert. Bei meiner weiteren Recherche stieß ich auf den Webauftritt von Caroline Sprott, ebenfalls Lipödem-Betroffene. Ihre farbenfrohen Bilder mit medizinischer Kompressionsversorgung fand ich klasse! Die Looks sahen modisch aus und Caroline strahlte ein wahnsinniges Selbstbewusstsein und eine Fröhlichkeit aus. Und da dachte ich, selbst wenn sich die Diagnose bewahrheiten sollte, schaffst auch du es, gut damit zu leben!
War dem auch so?
Vanessa Gerats: Als mein Gefäßchirurg die Diagnose bestätigte, fühlte ich mich kurzfristig hilflos und weinte erst einmal am Parkplatz vor der Praxis. Aber der Rückhalt meiner Familie war unglaublich – insbesondere mein jetziger Ehemann hatte immer ein offenes Ohr, war optimistisch und äußerst verständnisvoll. Er meinte, ich sollte mich auf die Therapie einlassen und gut zu mir sein. Er liebt mich, wie ich bin – gemeinsam schaffen wir das! Ich habe dann auch gezielt online nach weiteren Betroffenen gesucht und zum Beispiel Vanessa Reins‘ Seite ,Rund und sportlich‘ entdeckt. Zu sehen, wie viel positive Lebensenergie andere Betroffene ausstrahlen, war ermutigend und inspirierend zugleich.
„Wir versuchen die Patienten auf ihrem Weg bestmöglich zu unterstützen und das Leben mit Lipödem oder Lymphödem einfacher zu gestalten. Dabei zielen wir nicht nur auf ein optimales Therapieergebnis ab, sondern stimmen dies zusätzlich mit den individuellen Bedürfnissen unserer Kunden ab.“
Ralph Fritz, Geschäftsführung von H+P Gesunde Schuhe Orthopädie Schuhtechnik GmbH & Co KG in Pforzheim, Am Mühlkanal 1a
Haben Sie sich bei Ihrer ersten medizinischen Versorgung gleich eine Trendfarbe ausgesucht?
Vanessa Gerats: Nein, ganz so mutig war ich nicht. Ich habe mich umfassend im Sanitätshaus beraten lassen, zum Beispiel auch zu Zusätzen, und mich schlussendlich für eine hautfarbene „mediven cosy Strumpfhose“ entschieden mit geschlossener Fußspitze. Meinem Ehemann hätten die auffälligeren Farben besser gefallen, aber ich musste mich langsam vortasten. Mittlerweile liebe ich die expressiven „mediven“-Farben! Mein Favorit war die letzte Trendfarbe Mangogelb! Aber Himbeerrot ist ebenfalls ein Highlight. Mittlerweile kann es nicht auffallend genug sein und ich wage mich auch an Design- und Fashion-Elemente.
„Der moderne Look von Kompressionsstrümpfen oder -strumpfhosen erinnert nicht mehr an frühere Modelle. Unser Motto für diesen Bereich lautet: Starke Qualität im modernen Stil für anspruchsvolle Beine!“
Ralph Fritz, Geschäftsführung von H+P Gesunde Schuhe Orthopädie Schuhtechnik GmbH & Co KG in Pforzheim, Am Mühlkanal 1a
Wann haben Sie manuelle Lymphdrainage verschrieben bekommen?
Vanessa Gerats: Ich habe nach der Diagnose alles an Literatur gelesen, was es über die Erkrankung Lipödem gab. Ich wollte alle Möglichkeiten ausschöpfen, um mit der Erkrankung besser umzugehen. Deshalb habe ich mit der Unterstützung meines Arztes bei der Deutschen Rentenversicherung eine stationäre Reha beantragt, die auch sofort bewilligt wurde. Fokus der Reha lag in erster Linie auf einer intensiven Form der Komplexen Physikalischen Entstauungstherapie mit manueller Lymphdrainage, Wickelbandagierung und Hautpflege – unterstützt von Ernährungs- und Bewegungstherapie sowie psychologischer Begleitung. Aufgrund des Entlassungsberichts hat mir meine Hausärztin ein Rezept für manuelle Lymphdrainage einmal pro Woche verschrieben. Und das nehme ich seitdem gerne in Anspruch.
Achten Sie explizit auf Ihre Ernährung aufgrund Ihres Lipödems?
Vanessa Gerats: Ja, mein Mann und ich ernähren uns hauptsächlich vegetarisch und versuchen, möglichst gesund und ausgewogen zu essen. Ich gehe seit drei Jahren regelmäßig zur Kosmetikerin und bekam von ihr den Tipp, dass Lebensmittel wie Schweinefleisch, Milchprodukte und Weizen Entzündungen im Körper fördern können. Wir legen Wert auf hochwertige und frische Lebensmittel – Obst, Gemüse und Vollkornprodukte kommen bei uns regelmäßig auf den Teller. Und ich merke, wie gut mir und meinem Körper die Umstellung bekommt. Aber das sollte jeder Betroffene selbst für sich entscheiden.
Hatte die Diagnose Lipödem Einfluss auf Ihre Familienplanung?
Vanessa Gerats: Für uns war immer klar, Kinder gehören zu unserem Leben dazu! Natürlich habe ich mir große Sorgen und viele Gedanken im Vorfeld gemacht: Die Hormonumstellung könnte das Lipödem verschlimmern, das Lipödem meine Schwangerschaft negativ beeinflussen, meine Finger und Beine aufgrund von Wassereinlagerungen vermehrt anschwellen oder ich könnte meine medizinische Kompressionsversorgung vielleicht nicht mehr selbst anziehen. Am meisten hat mich allerdings beschäftigt, ob es ein Mädchen wird und womöglich die Erkrankung geerbt hat.
Haben Sie sich diesbezüglich medizinischen Rat geholt?
Vanessa Gerats: Zunächst habe ich intensiv im Internet recherchiert und dann mit meinem Mann gesprochen – er hat mir die Angst genommen. Wir könnten es ohnehin nicht beeinflussen und würden damit umgehen, wenn der Fall eintreten sollte. Darüber hinaus war der Austausch mit meiner Hebamme wichtig für mich – sie war eine große Stütze!
Haben Sie auch eine spezielle medizinische Versorgung für Schwangere getragen?
Vanessa Gerats: Ja, aufgrund meiner veränderten Umfangmaße habe ich eine zusätzliche medizinische Versorgung am Ende des ersten Trimesters verschrieben bekommen. Zusätzlich habe ich das optimierte „mediven cosy Umstandsleibteil“ von „medi“ testen dürfen.
Was war Ihr Resümee?
Vanessa Gerats: Das Schwangerschaftsleibteil war super angenehm zu tragen und sehr weich! Die obere Zone ist elastisch und mein Bauch hatte genügend Platz zum Wachsen. Der untere Bereich stützt gut, was den Druck auf die Hüfte, gerade zum Ende der Schwangerschaft, gefühlt verringert hat. Sobald ich die Kompressionsversorgung abgelegt habe, hatte ich bei der Bewegung Schmerzen in den Beinen. Ich fand es wirklich toll, das Leibteil während meiner Schwangerschaft zu tragen – ich habe mich rundum perfekt eingepackt gefühlt.
„Auch venengesunde Menschen sind mit Modestrümpfen mit Kompression gut bedient, wenn sich im harten Arbeitsalltag ein besonderes Wohlbefinden einstellen soll.“
Gerda Fritz, Geschäftsführung von H+P Gesunde Schuhe Orthopädie Schuhtechnik GmbH & Co KG in Pforzheim, Am Mühlkanal 1a
Konnten Sie in der Schwangerschaft Sport treiben?
Vanessa Gerats: Vorher habe ich sehr gerne Zumba getanzt und bin Mountainbike gefahren. Dank der Knie-Funktionszone, die mir meine Fachkraft im Sanitätshaus empfohlen hat, war dies auch mit medizinischer Versorgung anfangs problemlos möglich. Leider wurde mein Zumba-Kurs eingestellt und das Mountainbiken war mir zu gefährlich mit fortschreitender Schwangerschaft. Stattdessen habe ich in meiner Hebammenpraxis einen wöchentlichen Aquafitness-Kurs besucht, der mir sehr viel Spaß gemacht hat. Zusätzlich ging ich oft an der frischen Luft spazieren.
Sie sprechen auf Instagram ganz offen über Ihre Erkrankung und Ihre Schwangerschaft. Warum?
Vanessa Gerats: Die Diagnose Lipödem ist immer noch nicht bekannt genug und Betroffene sind leider vielen Vorurteilen ausgesetzt. Häufig dauert es Jahre oder Jahrzehnte, bevor Betroffene ihre Diagnose erhalten und mit der Therapie beginnen können. Je mehr Menschen Aufklärung betreiben und sich austauschen, umso mehr wird das Bewusstsein in der Öffentlichkeit dafür geschärft. Und dazu möchte ich meinen Beitrag leisten. Deshalb habe ich mich vor zwei Jahren entschieden, zum Welt-Lipödem-Tag am 18. Mai 2021, meine Geschichte zu teilen und Aufklärungsarbeit zu leisten. Und wenn ich mit meiner kleinen Plattform nur einige wenige erreiche, die dadurch informierter sind, habe ich viel gewonnen! Ich möchte mit Mythen aufräumen, die Angst vor der Erkrankung nehmen und anderen Betroffenen Mut zusprechen, offen zu sich zu stehen. pm
Drei Millionen Lipödem-Erkrankte in Deutschland – Hohe Dunkelziffer
Das Lipödem ist eine weit verbreitete Erkrankung mit geschätzt circa drei Millionen Betroffenen allein in Deutschland, wie das DeutschesGesundheitsPortal (DGP) berichtet. „Erkrankte Patienten, nahezu ausschließlich Frauen, leiden an schmerzhaften, symmetrischen sowie krankhaft vermehrten Fettansammlungen an den Beinen. Bei etwa jedem dritten Erkrankten sind zusätzlich die Arme betroffen“, erklärt Privatdozent Dr. Klaus J. Walgenbach.
Die fortschreitende Erkrankung beginnt gewöhnlich in Phasen einer hormonellen Veränderung, wie etwa in der Pubertät, bei Schwangerschaften oder in den Wechseljahren. Es gibt auch Hinweise auf eine familiäre Häufung beim Lipödem. „Aufgrund der großen Unsicherheit bei der Diagnosestellung wird von einer hohen Dunkelziffer unerkannter Fälle ausgegangen“, sagt Walgenbach.
Erhebliche Einschränkungen in allen Lebensbereichen
Für den Facharzt für Plastische und Ästhetische Chirurgie am Universitätsklinikum Bonn ist das Lipödem eine ernstzunehmende Erkrankung: „Trotz Maßnahmen wie Sport, Diät, Lymphdrainagen und Kompressionsstrumpfhosen, die das krankhaft vermehrte Fettgewebe nicht reduzieren können, führen die Symptome des Lipödems bei Betroffenen oftmals zu erheblichen Einschränkungen im Alltag, Beruf, in der Familie und Freizeit. Zudem vergehen oftmals Jahre bis zur Diagnosestellung, sodass die Betroffenen häufig einen langen Leidensweg hinter sich haben.“
Ein Ziel der Behandlung sei es, zum einen Beschwerden wie Schmerzen, Wassereinlagerung und Disproportion durch eine Volumenreduktion direkt zu behandeln. Zum anderen gelte es, Komplikationen des Lipödems wie Hautinfektionen, Lymphödeme sowie orthopädische Probleme zu verhindern.
Operation mit Fettabsaugung
„Doch während durch konservative Maßnahmen wie manuelle Lymphdrainage, Kompressionstherapie und Bewegungstherapie Ödeme zumindest teilweise reduziert werden können, ist eine Reduktion des krankhaft vermehrten Fettgewebes weder durch Diät noch durch diese konservativen Behandlungsansätze möglich“, so Walgenbach. Die Deutsche Gesellschaft für Phlebologie (DGP) empfiehlt deshalb eine operative Behandlung insbesondere dann, wenn trotz konsequent durchgeführter konservativer Therapien noch Beschwerden bestehen oder diese zunehmen.
Wenn trotz konservativer Therapie weiterhin Beschwerden bestehen, kommt eine ergänzende Fettabsaugung in Frage. Bei der Behandlung wird unter Betäubung mit Absaugekanülen Fettgewebe aus den Problemzonen abgesaugt. Die Veranlagung zum Lipödem bleibt aber bestehen, sodass auch nach einer Fettabsaugung auf Kompression und Gewicht geachtet werden muss, um nicht ein neues Lipödem zu entwickeln. Diese Liposuktion kann beim Lipödem das krankhafte Unterhautfettgewebe an Beinen und Armen und damit den Gewebeumfang und den Ort der Ödem-Einlagerung dauerhaft reduzieren. Dadurch werden Spontanschmerz, Druckschmerz sowie die Neigung zu Ödem und Hämatom signifikant verbessert. pm/DGP/tok