Lymphozyten besitzen eine wichtige Funktion in der Bekämpfung von veränderten körpereigenen Tumorzellen. Die 3D-Illustration zeigt einen Angriff auf eine sich ausbreitende Krebszelle. Foto: Christoph Burgstedt/stock.adobe.com

Keine unnötigen Krebs-Toten mehr: Die Vision mit der Null in der Onkologie

Noch nie waren wir in der Therapie von Menschen mit Krebs besser als heute. Unter anderem durch neue Arzneimittel ist es gelungen, Tumorerkrankungen gezielter an ihren Wurzeln zu packen. Umso erschreckender ist, dass noch immer viele Menschen in Deutschland nicht von diesem Fortschritt profitieren.  

Einmal im Jahr ist Vision Zero Summit. In Berlin treffen sich am 19. und 20. Juni führende Gesundheitsexperten, um die Vision mit der Null in der Onkologie voranzutreiben. „Vision Zero heißt, dass niemand mehr unnötigerweise an Krebs erkrankt oder stirbt“, sagt der Onkologe Professor Dr. Michael Hallek (Köln). „Neben der Primär-Prävention haben innovative Arzneimittel das größte Potenzial die Krebsmortalität zu senken.“ Auf dem zweitägigen Gipfel geht es auch darum, Hürden zu identifizieren, um im Kampf gegen Krebs noch besser zu werden. Die Veranstaltung ist auch als Livestream zu sehen – zur Anmeldung geht es hier: https://www.vision-zero-summit.de/anmeldung.

Das Motto: Gemeinsam gegen Krebs

Krebs ist eine Plage der Menschheit. Seit über 5.000 Jahren lebt die Menschheit mit der Krankheit, schrieb der Wissenschaftler und Arzt Siddharta Mukherjee in seinem Bestseller „Der König aller Krankheiten“. Aber erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten ist es der Forschung gelungen, dem Tyrannen wirklich etwas entgegenzusetzen. Seit die zugrundeliegenden Ursachen für die Entstehung von Tumoren besser verstanden werden, sind auch die Antworten der Medizin schlagkräftiger geworden: Schlagworte wie Immunonkologie, Präzisionsmedizin oder personalisierte Therapien stehen für einen beeindruckenden Fortschritt.

Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Die Überlebensraten steigen bei fast allen Krebsarten, die Lebensqualität verbessert sich. Und die Aussichten sind noch besser: Die Pipelines von forschenden Pharmaunternehmen sind gefüllt mit vielversprechenden Wirkstoffen, ihren Kombinationen und ganz neuen Wirkprinzipien. Dem König der Krankheiten geht es an den Kragen.

Die moderne Chemotherapie von heute ist nicht mehr die Chemotherapie von gestern – in vielen Krebs-Behandlungsbereichen hat man Medikamente und Therapiewege für den Patienten effektiver und schonender gestalten können. Foto: RFBSIP

Viele Möglichkeiten bleiben ungenutzt

Gleichzeitig zeigt sich selbst in einem entwickelten Land wie Deutschland ein Fortschritt, der zwei Geschwindigkeiten kennt. Viele der heute zur Verfügung stehenden Instrumente werden gar nicht genutzt und kommen nicht bei den Patienten an: Die Strukturen im Gesundheitssystem hinken dem Fortschritt hinterher.

Was muss sich ändern? Dazu hat das Onlineportal pharma-fakten.de fünf Experten gefragt. Die Statements lesen Sie auch hier auf Vital-Region.de.

Die Vision von der Null

Prof. Dr. Christof von Kalle, Berlin Institute of Health (BIH) @ Charité, Mitglied des Sachverständigenrates Gesundheit und Pflege

Die Zukunft hat schon begonnen: In der Behandlung von Krebs sehen wir Fortschritte, an die vor ein paar Jahren nur wenige geglaubt haben. Aber Krebs behandeln ist viel, viel mehr als eine richtige Diagnose mit anschließender Therapie. Die Behandlung von Krebs muss dort anfangen, wo wir von gesunden Menschen sprechen: bei der Prävention. Wir wissen heute, dass wir fast jeden 2. Krebstodesfall verhindern könnten, wenn wir alle Instrumente der Vorsorge und Früherkennung konsequent nutzen würden.

Deutschland ist langsam: 20 Jahre sind von der Konzeption bis zur Umsetzung eines Einladungsprogramms gegen Darmkrebs vergangen. 20 Jahre Digitalisierung der medizinischen Versorgung haben noch nicht zu vielen auswertbaren Datenpunkten geführt – wir laufen den Möglichkeiten hinterher. Und auch nach 20 Jahren mit einem Netzwerk von spezialisierten Krebszentren erreichen wir nur wenig mehr als die Hälfte der Patient:innen rechtzeitig mit den besten Diagnostik- und Therapieverfahren.

Prävention: Niemand ist zuständig

Bis heute gibt es keinen Masterplan. Bis heute nehmen wir die Verhinderung von vermeidbaren Erkrankungen nicht als gesamtgesellschaftliche Aufgabe an. Es existiert ein Vakuum, da es keine zuständige Institution für Prävention gibt und niemand wirklich verantwortlich ist.

Wir haben deshalb die Initiative Vision Zero gegründet – ein Konzept, das in der Verkehrs- und Arbeitssicherheit seit Jahrzehnten erfolgreich umgesetzt wird. Vision Zero sagt: Jeder Krebsfall ist einer zu viel. Um das zu erreichen, müssen wir jeden Stein umdrehen, jede Hürde identifizieren und abbauen, die uns daran hindert, Menschen mit Krebs besser zu behandeln. Und wir müssen den Wandel schaffen zu einem Gesundheitssystem, das in Vorsorge denkt und Prävention großschreibt. Die Zeiten eines Gesundheitssystems, das sich vor allem als Reparaturbetrieb versteht, müssen wir endlich hinter uns lassen. Das ist ein Konzept aus dem vergangenen Jahrhundert. Niemand würde sich heute mit einer Krebstherapie aus dem vergangenen Jahrhundert behandeln lassen.

Viele neue Behandlungsmethoden haben in den vergangenen Jahren manchen Krebs-Erkrankungen etwas von ihrem Schrecken genommen. Doch noch nicht können Patienten überall nach modernsten Erkenntnissen behandelt werden. Foto: Maksym Povozniuk/stock.adobe.com

Immunonkologie: The Sky is the Limit

Prof. Dr. Dr. Michael von Bergwelt, Leiter der Medizinischen Klinik und Poliklinik III am Klinikum der Universität München (LMU)

In den vergangenen Jahren heilt die Immunonkologie weltweit jährlich Millionen von Menschen mit einem breiten Spektrum an Tumorerkrankungen. Was ist passiert? Die medizinische Forschung hat endlich ihre Scheuklappen abgelegt und den Fokus von der Tumorzelle auf die Nachbarzellen, das sogenannte Tumormikromilieu, erweitert. Aber nicht nur das. Nachdem wir in der Immunonkologie bisher versucht haben ‚Gas zu geben‘, also Immunzellen zu übertragen und gegen Krebszellen zu aktivieren, geht es jetzt vor allem darum den ‚Fuß von der Bremse‘ zu nehmen.

Die Immuncheckpoint-Blockade (ICB) setzt darauf, hemmende Tumorfaktoren des Mikromilieus auf die natürliche Immunantwort auszuhebeln – also die Bremsen zu lösen, die das Immunsystem davon abhalten, den Krebs anzugreifen. Dieser Paradigmenwechsel hat dazu geführt, dass inzwischen bei über 20 Tumorarten Immunonkologika erfolgreich eingesetzt werden können.

Das verändert nicht nur die Lebensperspektiven der Patientinnen und Patienten. Es verändert auch die Art und Weise, wie wir Krebs behandeln. Moderne Immunonkologie wird zunehmend ein ambulantes Verfahren, das in hunderten von onkologischen Praxen sicher und effektiv angeboten wird. Zunächst wurde ICB als neue Substanzgruppe bei fortgeschrittenen und mehrfach rezidivierten Tumorerkrankungen, also in den letzten Therapielinien, eingesetzt. Inzwischen ist der Zug durch die Therapielinien nicht mehr zu stoppen. Denn: Je früher wir diese Arzneimittel einsetzen, desto besser wirken sie.

Neue Krebstherapien: Herausragende Chancen für Patient:innen

Eine Folge des Fortschritts ist, dass Grenzen zwischen klassisch palliativen und kurativen Behandlungsstrategien verschwimmen. Das ist primär natürlich ein Segen, stellt aber auch eine ethische Herausforderung dar. Es ist unklar, wer von den vielversprechenden neuen Therapien und Studien nicht profitieren wird und wer umsonst therapiert wird.

Die Therapiekosten sind signifikant. Im Vergleich zu der gewonnen Lebenszeit, Lebensqualität und Produktivität erscheinen diese aber häufig gut investiert. Die Immunonkologie hat nicht nur einen unerwarteten Erfolgszug hinter sich, sondern beginnt jetzt erst ihr volles Potential multidimensional zu entfalten. Die Herausforderungen sind signifikant, werden aber von den herausragenden Chancen noch deutlich überragt: The sky is the limit.

Kinder und Krebs: Strategie für eine Vision Zero

Prof. Dr. Angelika Eggert, Direktorin der Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Onkologie und Hämatologie, Charité

Krebs im Kindes- und Jugendalter ist glücklicherweise selten. Oft vergessen wird aber, dass Krebs die häufigste tödliche Krankheit in dieser Altersgruppe ist; in Deutschland sind jedes Jahr ca. 2.300 junge Patienten neu davon betroffen. Dank der jahrzehntelangen engen Kooperation behandelnder Ärzte und Forscher im Rahmen vorbildlich strukturierter akademischer Behandlungsstudien (Phase III) gehört der Kampf gegen Krebs bei Kindern zu den Erfolgsgeschichten der Medizin: In Europa erreichen wir heute bei mehr als 82 Prozent ein Langzeitüberleben. Aber das reicht nicht: Jedes Jahr verlieren wir in Deutschland 400 Kinder wegen einer Krebserkrankung. In Europa sind es 15 Kinder pro Tag.

Deshalb brauchen wir auch in der Kinderonkologie eine Vision Zero. Dafür müssen wir die gezielte Forschung beschleunigen, wie das auf europäischer Ebene mit dem Projekt Accelerate angestoßen ist, das sich zum Ziel genommen hat, Kindern und Jugendlichen einen besseren Zugang zu Innovationen in der Krebstherapie zu verschaffen. In Deutschland brauchen wir ähnliche Aktivitäten.

Überhaupt muss viel mehr in die Forschung investiert werden: Wie lassen sich die Möglichkeiten der Präzisionsonkologie insbesondere bei Rezidivpatienten durch umfassende und flächendeckende molekulare Analysen ausschöpfen? Lassen sich die Erfolge immuntherapeutischer Ansätze wie Antikörper oder CAR-T-Zelltherapien, wo wir große Fortschritte bei Leukämien und Lymphomen sehen, nicht auch bei pädiatrischen soliden Tumorerkrankungen wiederholen?

Uns fehlen gezielte Forschungsprogramme zur Prävention von Spätfolgen einer kindlichen Krebserkrankung, denn von ca. 40.000 Überlebenden in Deutschland leiden fast 2/3 unter Spätfolgen der Erkrankung oder der Therapie. Das sind nur einige der Fragen, die uns umtreiben. Und: Die unerträgliche Unterfinanzierung der Kinderonkologie muss beendet werden.“  

„Wir können es uns nicht leisten, im Bereich der Digitalisierung weiter so behäbig zu agieren wie bisher und unser Handeln nur an Bedenken auszurichten“, sagt Prof. Dr. Michael Hallek, der Forschungs- und Patienten-Daten als wichtigen Rohstoff für die Krebsforschung sieht. Foto: C Malambo/peopleimages.com/stock.adobe.com

Eine moderne Forschungslandschaft als „Game-Changer“

Prof. Dr. Michael Hallek, Direktor der Klinik I für Innere Medizin, Uniklinik Köln, und CIO Aachen, Bonn, Köln, Düsseldorf

Wir können es uns nicht leisten, im Bereich der Digitalisierung weiter so behäbig zu agieren wie bisher und unser Handeln nur an Bedenken auszurichten. Die europäische Datenschutzgrundverordnung ist eine hervorragende Basis für eine sichere Nutzung von Gesundheitsdaten, das sieht man an deren Umsetzung in modernen Ländern, wie beispielsweise Estland oder Lettland. Daten sind einer der wichtigsten Rohstoffe für den Fortschritt, ihr Wert nimmt mit der Nutzung immer weiter zu.

Auch wegen dieser Behäbigkeit verlieren wir auf dem internationalen Forschungsparkett gerade massiv an Boden. Da müssen wir gegensteuern – die Erweiterung des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen NCT um weitere Standorte ist da ein wichtiger Schritt. Als eine Kooperation zwischen dem Deutschen Krebsforschungszentrum, Partnern in der Universitätsmedizin und weiteren Forschungspartnern in Deutschland versetzt es uns in die Lage, bisherige Lücken im Bereich der klinischen Forschung und Entwicklung zu schließen. Spitzenforschung und innovative Krebstherapie sind im NCT eng vernetzt, damit Patienten frühzeitig Zugang zu vielversprechenden Behandlungsansätzen erhalten.  Ich bin mir sicher, dass die NCT-Erweiterung ein echter „Game-Changer“ in unserer Forschungslandschaft sein wird.

Neue Therapien – große Chancen für Patient:innen

Wir haben ein großes Potenzial, um die Sterblichkeit bei Krebs weiter deutlich zu senken. Da sehe ich zum einen die Immuntherapien. Hier wird uns vor allen Dingen die Kombination verschiedener Therapien voranbringen, darunter Checkpoint-Inhibitoren, CAR-T-Zellen und künftig auch Krebsvakzine sowie immunmodulierende Substanzen, die das Mikromilieu des Tumors beeinflussen.

Weiteres großes Potenzial sehe ich bei den gezielten Therapien, die an veränderten Signalwegen ansetzen. Wir verstehen nach wie vor nicht alle dieser Signalwege und nicht alle, die wir kennen, können wir therapeutisch adressieren. Aber wir kommen voran. Meiner Meinung nach werden diese neuen Therapiemöglichkeiten in den nächsten 10 bis 20 Jahren maßgeblich für die Fortschritte in der Krebstherapie sein. Für die Patientinnen und Patienten liegen hier große Chancen, deshalb müssen wir uns insgesamt schneller bewegen.“

Gesundheitsdaten retten Leben

Ulla Ohlms, Patientin und Vorsitzende der Stiftung PATH – Patients` Tumor Bank of Hope

Bei der Krebsforschung konnten wir Patienten in den vergangenen Jahren Quantensprünge beobachten. So etwa bei den monoklonalen Antikörpern für Brustkrebspatientinnen mit aggressiver Tumorbiologie. Oder bei Lungenkrebs und Melanom, wo molekulargenetische Untersuchungen bahnbrechende Ergebnisse zeigten. Seltene Gen- und Treibermutationen wurden entdeckt und konnten erfolgreich abgeschaltet werden.

Patienten mit seltenen und fortgeschrittenen Krebserkrankungen hoffen jetzt, dass ihnen alle Möglichkeiten genetischer Testung offenstehen. Sie wollen von neuen Medikamenten profitieren. Sie wollen länger leben. Aber längst nicht immer werden Genuntersuchungen angeboten. Das muss besser werden.

Datenschutz – falsch verstanden

Viele Krebspatienten wollen ihre anonymisierten Krankheitsdaten (Tumorbiologie, Genmutation, Behandlung, Krankheitsverlauf) der Wissenschaft zur Nachnutzung überlassen. Sie wissen, dass mit Künstlicher Intelligenz Ähnlichkeiten und Muster sichtbar werden, die zur weiteren Entschlüsselung des Krebses und zur Heilung beitragen können. Leider versperrt der Datenschutz diese Möglichkeiten. Das muss aufhören. Jede Krebspatientin muss selbst entscheiden können, was sie mit ihren pseudonymisierten Daten machen will. Wer das nicht will, sagt NEIN und wählt die Opt-out-Lösung. Die elektronische Patientenakte mit Opt-out muss endlich kommen.

INFO

16 Unternehmen aus der Arzneimittel-Branche haben sich mit dem Verein Pharma Fakten e.V. organisiert. Kern der Initiative ist die Online-Plattform www.pharma-fakten.de, an der eine eigenständige Redaktion kontinuierlich arbeitet. Pharma Fakten berichtet seit 2014 regelmäßig über Gesundheitsthemen. Schwerpunkte sind die Forschung und Entwicklung neuer Medikamente in den verschiedensten Indikationen sowie gesundheitspolitische und ökonomische Hintergründe. pm