„Die massive Zunahme von schweren Ängsten und Depressionen bei Mädchen ist ein stiller Hilfeschrei, der uns wachrütteln muss“, sagt Andreas Storm, Vorstandschef der DAK-Gesundheit. Bildrechte/Foto: DAK-Gesundheit/Getty Images/Tetra images RF

„Das Seelenleiden verfestigt sich“: Psychische Erkrankungen bei Jugendlichen im Südwesten auf hohem Niveau

Psychische Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen in Baden-Württemberg stabilisieren sich auf einem hohen Niveau. Nach Anstiegen seit der Corona-Pandemie gab es 2022 im Vergleich zu 2021 leichte Rückgänge in den ambulanten und stationären Behandlungszahlen. Trotzdem ist die Inanspruchnahme bei jugendlichen Mädchen immer noch höher als vor der Corona-Pandemie.

Das ist das Ergebnis einer aktuellen Analyse des baden-württembergischen Kinder- und Jugendreports der DAK-Gesundheit. Die Daten zeigen, dass weiterhin jugendliche Mädchen am stärksten von Depressionen, Angststörungen und Essstörungen betroffen sind. Vor dem Hintergrund der aktuellen Ergebnisse geben Experten keine Entwarnung. Der baden-württembergische DAK-Landeschef Siegfried Euerle fordert mehr Präventionsinitiativen zur Stärkung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen.

Nicht sparen an psychischer Gesundheit der Kinder

Für die aktuelle Sonderanalyse im Rahmen des baden-württembergischen Kinder- und Jugendreports untersuchten Wissenschaftler von Vandage und der Universität Bielefeld Abrechnungsdaten von rund 87.300 Kindern und Jugendlichen bis einschließlich 17 Jahren, die bei der DAK-Gesundheit in Baden-Württemberg versichert sind. Analysiert wurden anonymisierte Versichertendaten aus den Jahren 2017 bis 2022.  

„Die aktuellen Ergebnisse sind beunruhigend. Ein leichter Rückgang zum Vorjahr bedeutet nicht, dass die Welt jetzt wieder in Ordnung ist. Im Gegenteil: Das Seelenleiden vieler Kinder und Jugendlicher verfestigt sich“, sagt Euerle. „Vor dem Hintergrund der aktuellen Haushaltsplanungen droht vielen präventiven und pädagogischen Angeboten der Rotstift. So weit darf es nicht kommen, denn wir dürfen an der psychischen Gesundheit unserer Kinder nicht sparen. Im Gegenteil, wir brauchen mehr Präventionsinitiativen in Schulen, Vereinen und der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Denn es geht um die Zukunft unserer Kinder in Baden-Württemberg.“

Behandlungszahlen auf hohem Niveau

Die Auswertung zeigt, dass die Behandlungszahlen bei psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen 2022 in Baden-Württemberg im Vergleich zu 2021 insgesamt leicht rückläufig sind. 2022 erhielten 8 % weniger jugendliche Mädchen eine Neu-Diagnose in diesem Bereich als 2021. Bei Jungen steht ebenfalls ein Minus von 2 %. Mit Blick auf die Situation vor der Corona-Pandemie lagen die Behandlungszahlen weiterhin auf einem hohen Niveau – insbesondere bei jugendlichen Mädchen. Hier gab es 2022 im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 ein Plus von 7 %. Insgesamt wurde 2022 bei rund 14.900 jugendlichen Mädchen aus Baden-Württemberg eine psychische Erkrankung oder Verhaltensstörung neu diagnostiziert.

„Die aktuellen Daten zeigen ein heterogenes Bild“, sagt Prof. Dr. Jan Steffen Jürgensen, Vorstandschef des Klinikum Stuttgart. „Einige Negativtrends sind gebrochen. Wir sehen eine Stabilisierung der Neuerkrankungen an psychischen Leiden auf einem erhöhten Niveau. Von einer Normalisierung der Lage kann leider noch keine Rede sein. Es gibt noch keinen Grund zur Entwarnung. Auch wenn einige Kennzahlen rückläufig sind: Die Polykrise hat besonders die seelische Gesundheit junger Menschen strapaziert.“

Quelle/Grafik: Präventionsradar der DAK-Gesundheit 2023

Jugendliche Mädchen leiden besonders

Die aktuelle Analyse des Kinder- und Jugendreports für Baden-Württemberg belegt, dass vor allem jugendliche Mädchen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren mit Depressionen, Angststörungen und Essstörungen in ärztlicher Behandlung sind. Zwar ging die Neuerkrankungsrate bei Depressionen 2022 um 14 % im Vergleich zu 2021 zurück. Doch im Vergleich mit 2019, dem letzten Jahr vor Ausbruch der Corona-Pandemie, steht ein Plus von 32 %. Bei Ängsten und Essstörungen sind die Trends in Baden-Württemberg noch ausgeprägter. Im Vergleich zu 2021 erkrankten rund 7 % mehr jugendliche Mädchen 2022 neu an Angststörungen – im Vergleich zu 2019 waren es aber 46 % mehr. Bei Essstörungen gingen 2022 die Neuerkrankungen im Vergleich zum Vorjahr um 29 % zurück. Mit Blick auf 2019 stiegen die Zahlen aber um 53 % an.

Mehr Vorbeugung, mehr Therapieplätze

„Die Ergebnisse zeigen ein uneinheitliches Bild“, so Prof. Dr. Jürgensen. „Depressionen und Angststörungen werden immer häufiger gemeinsam diagnostiziert, was die Therapie komplexer macht. Wir sehen zudem einen Trend zur Chronifizierung – möglicherweise auch durch unzureichende Therapiekapazitäten der letzten Jahre mit zu langen Wartezeiten für junge Patienten in frühen, noch besser behandelbaren Krankheitsphasen.“

Die Politik in Baden-Württemberg habe konsequent reagiert und die Versorgungskapazitäten in den letzten zwei Jahren spürbar erhöht, so Jürgensen. „Allein im Klinikum Stuttgart mit Deutschlands größter Kinderklinik konnten wir die Behandlungsmöglichkeiten mit Förderung der Landespolitik deutlich ausbauen.“ Vorrang vor klinischen Therapieangeboten als letzter Option müssten aber vorbeugende Ansätze haben. Die Förderung von Bildung, intakten sozialen Bindungen und gute Entwicklungsperspektiven sieht er als hochwirksame Ansätze.

Quelle/Grafik: Präventionsradar der DAK-Gesundheit 2023

Jungen seltener in Behandlung als Mädchen

Die baden-württembergische DAK-Analyse verdeutlicht, dass Jungen im Jugendalter seltener aufgrund von psychischen Erkrankungen oder Verhaltensstörungen behandelt werden. 2022 erhielten 3 % weniger der 15- bis 17-jährigen Jungen eine Neudiagnose in diesem Bereich als im Vor-Pandemie-Jahr 2019. Bei jugendlichen Mädchen in Baden-Württemberg steht hingegen insgesamt ein Plus von 7 %.

„Während Jungen bei psychischen Belastungssituationen eher externalisierend reagieren, das heißt Sozialverhaltensstörungen wie Aggressivität, Impulsivität und oppositionelles Verhalten zeigen, neigen Mädchen eher zu internalisierenden Störungen wie Rückzug, Angst bis hin zu depressiven Verstimmungen und Essstörungen. Externalisierende Störungen werden oft nicht als psychische Störungen gewertet, sondern als Sozialverhaltensstörungen. Sie sind somit wahrscheinlich unterdiagnostiziert“, sagt Prof. Jürgensen. pm