Der Spitzenwert von 225 Arbeitsunfähigkeitsfällen je 100 erwerbstätige AOK-Mitglieder aus 2023 ist bereits im Zeitraum von Januar bis August 2024 erreicht worden – und damit schon vor der zu erwartenden Erkältungswelle im Herbst und Winter. Im Durchschnitt der Jahre 2014 bis 2021 waren nur knapp 160 Fälle je 100 Mitglieder zu verzeichnen. Foto: momius/stock.adobe.com
AOK-Fehlzeiten-Report: Höchstwerte bei Krankschreibungen – zufriedene Beschäftigte sind gesünder
Die emotionale Bindung von Beschäftigten an ihr Unternehmen kann vor allem durch das Verhalten der Führungskraft und die individuelle Passung der eigenen Arbeitssituation zu den Bedürfnissen und Wünschen der Beschäftigten positiv beeinflusst werden. Das zeigt eine repräsentative Befragung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) für den Fehlzeiten-Report 2024.
Beschäftigte, die eine höhere emotionale Bindung zu ihrem Arbeitgeber hatten, waren laut der Befragung auch zufriedener mit ihrer Arbeit, hatten weniger berufliche Fehlzeiten und zeigen eine signifikant geringere Wechselabsicht. Der aktuelle Report mit dem Titel „Bindung und Gesundheit – Fachkräfte gewinnen und halten“ beleuchtet auch die jüngste Entwicklung der Krankschreibungen, die sich auf historisch hohem Niveau bewegen.
Geringe Wechselabsicht
„Angesichts des aktuellen Fachkräftemangels und vieler offener Stellen wird es für Arbeitgeber zunehmend wichtig, die Bindung ihrer Mitarbeitenden an die eigene Organisation zu stärken“, sagt Johanna Baumgardt, Forschungsbereichsleiterin für Betriebliche Gesundheitsförderung im WIdO und Mitherausgeberin des Fehlzeiten-Reports zu den Ergebnissen der Befragung. In der Erhebung zeigten sich deutliche Zusammenhänge zwischen einer hohen emotionalen Bindung an den Arbeitgeber einerseits und einer höheren Arbeitszufriedenheit sowie geringeren Wechselabsichten der Befragten andererseits.
Insgesamt war laut der Befragung eine eher geringe Wechselabsicht unter den Beschäftigten festzustellen: So gaben nur 6,4 Prozent der Befragten an, weniger als zwölf Monate bei ihrem aktuellen Arbeitgeber bleiben zu wollen. 8,4 Prozent wollen nach eigenen Angaben länger als fünf Jahre bei ihrem jetzigen Arbeitgeber bleiben, 5,1 Prozent länger als zehn Jahre. Der mit Abstand größte Teil der Befragten (57,3 Prozent) antwortete, bis zur Rente bleiben zu wollen.
Zusammenhang zwischen Bindung und Gesundheit
Als weiteres Ergebnis der Studie zeigte sich, dass emotional stärker an den aktuellen Arbeitgeber gebundene Mitarbeitende seltener krankgeschrieben sind und seltener trotz Erkrankung zur Arbeit gehen. Damit bestätigt der Fehlzeiten-Report den Zusammenhang zwischen höherer Bindung der Beschäftigten an eine Organisation und besserer Gesundheit, der auch in anderen Studien nachgewiesen werden konnte. „Wenn Organisationen ihre Beschäftigten längerfristig binden wollen, sollten sie Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitszufriedenheit und zur Verbesserung der individuellen Passung der Beschäftigten zur eigenen Arbeit ergreifen. Außerdem sollten sie die Führungskompetenzen ihres Leitungspersonals stärken und mit Betrieblicher Gesundheitsförderung in die Gesundheit ihrer Mitarbeitenden investieren“, so das Fazit von Johanna Baumgardt zu den Befragungsergebnissen.
In der aktuellen Befragung gaben fast alle Befragten (91,9 Prozent) an, dass der eigene Arbeitgeber Angebote der Betrieblichen Gesundheitsförderung vorhält; die Hälfte dieser Personen hatte solche Angebote bereits in Anspruch genommen. Für die repräsentative Befragung des Fehlzeiten-Reports 2024 sind insgesamt 2501 abhängig Beschäftigte von 18 bis 66 Jahren durch das forsa-Institut befragt worden.
Historische Höchststände bei Krankschreibungen auch 2024
Die aktuelle Analyse der Krankschreibungen zeigt, dass sich die Krankenstände auch im bisherigen Verlauf des Jahres 2024 weiter auf historisch hohem Niveau bewegen: Der Spitzenwert von 225 Arbeitsunfähigkeitsfällen je 100 erwerbstätige AOK-Mitglieder aus 2023 ist bereits im Zeitraum von Januar bis August 2024 erreicht worden – und damit schon vor der zu erwartenden Erkältungswelle im Herbst und Winter. „Es ist daher davon auszugehen, dass wir in der Gesamtbilanz für 2024 einen noch höheren Wert sehen werden als 2023“, so die Einschätzung von Johanna Baumgardt. Zum Vergleich: Im Durchschnitt der Jahre 2014 bis 2021 waren nur knapp 160 Fälle je 100 Mitglieder zu verzeichnen.
Der wesentliche Treiber dieser Entwicklung sind nach wie vor die Atemwegserkrankungen. „Der Krankenstand liegt höchstwahrscheinlich aufgrund einer erhöhten Empfänglichkeit für Infektionen und aufgrund der neuen, zusätzlichen viralen Erkrankungen der letzten Jahre insgesamt höher“, so die WIdO-Expertin. Es gibt aber auch andere mögliche Gründe: So kann die Einführung der elektronischen Krankmeldungen zu einer vollständigeren Erfassung der AU-Bescheinigungen beigetragen haben. „Es ist zu vermuten, dass vor der Einführung der eAU nicht alle Versicherten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bei der Kasse eingereicht haben, sodass wir nun ein vollständigeres Bild haben“, so Baumgardt.
Keine Hinweise auf Missbrauch der telefonischen Krankschreibung
Die AOK-Vorstandsvorsitzende Dr. Carola Reimann ging auf einen anderen Aspekt ein, der zuletzt im Zusammenhang mit den hohen Krankenständen diskutiert worden ist: Mitte September hatte Bundesfinanzminister Christian Lindner die Abschaffung der telefonischen Krankschreibung gefordert, weil es eine Korrelation zwischen dem hohen Krankenstand und der Einführung dieser Maßnahme gebe. „Diese gefühlte Wahrheit können wir nicht bestätigten“, betonte Reimann.
„Verschiedene Auswertungen des WIdO zu den Fehlzeiten in der Pandemie lassen den Schluss zu, dass mit der damals neu eingeführten Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung sehr verantwortungsvoll umgegangen worden ist.“ Weder 2020 noch 2021 seien im Zusammenhang mit der damals neu eingeführten Option höhere Krankenstände zu sehen gewesen. „Insofern haben die Erfahrungen aus der Pandemie gezeigt, dass die telefonische Krankschreibung verantwortungsvoll genutzt wurde und eine Möglichkeit sein kann, die Arztpraxen gerade in Infektionswellen zu entlasten und zu einer Reduzierung von Kontakten mit erkrankten Personen beitragen kann“, sagte Reimann.
Sie sprach sich für eine Beibehaltung dieser Möglichkeit aus, die der Gemeinsame Bundesausschuss im Dezember 2023 dauerhaft beschlossen hatte.
Psychische Erkrankungen: steter Anstieg, lange Ausfallzeiten
Ein langfristig wirkender Faktor für höhere Krankenstände ist laut Report der stetige Anstieg von Fehlzeiten durch psychische Erkrankungen, die besonders lange Krankschreibungen verursachen. So haben die AU-Tage aufgrund psychischer Erkrankungen seit 2014 um knapp 47 Prozent zugenommen (Stand: August 2024). Bei Krankschreibungen wegen Burnout-Erkrankungen war zudem ein Anstieg von 100 AU-Tagen je 100 erwerbstätige AOK-Mitglieder im Jahr 2014 auf knapp 184 Tage im Jahr 2024 festzustellen (Stand: August 2024).
„Als Ursache vermuten wir ein Zusammenwirken verschiedener Faktoren – von der Zunahme psychischer Belastungen durch globale Krisen bis zu Veränderungen in der Arbeitswelt wie Verdichtung und Entgrenzung der Arbeit durch ständige Erreichbarkeit.“ Besonders betroffen von psychischen Erkrankungen waren Berufe im Bereich Erziehung und Unterricht sowie im Gesundheits- und Sozialwesen und in anderen kontaktintensiven Berufen wie der öffentlichen Verwaltung.
Psychosoziales Klima entscheidend für Bindung von Pflegekräften
Für die Bindung von Mitarbeitenden in der Pflege ist das sogenannte psychosoziale Sicherheitsklima in der jeweiligen Einrichtung ein besonders wichtiger Faktor. Eine im Fehlzeiten-Report veröffentlichte Studie zeigt, dass ein deutlicher Anteil der befragten Pflegefachkräfte schon einmal über den Wechsel des Arbeitsplatzes (52 Prozent) oder gar über den Ausstieg aus der Pflege (39 Prozent) nachgedacht hat. Für 13 Prozent stellt sich die Frage des Arbeitsplatz-Wechsels akut, für 8 Prozent die Frage des Berufswechsels.
In Pflegeeinrichtungen, die der Gesundheit der Beschäftigten hohe Priorität einräumen und sich insbesondere um ein gutes Klima in Bezug auf die mentale Gesundheit bemühen, ist die Bereitschaft zum Wechsel und zum Ausstieg laut der Studie nur etwa halb so hoch wie in Einrichtungen mit einem schlechten psychosozialen Sicherheitsklima. Einer der wichtigsten Faktoren für die Bindung der Mitarbeitenden seien „Glaubwürdigkeit und Kongruenz des Managements im Umgang mit Fragen der psychischen Gesundheit“, betonte Dr. Antje Ducki, Professorin für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Berliner Hochschule für Technik (BHT) und Mitherausgeberin des Fehlzeiten-Reports 2024.
Ein konkretes Beispiel für eine Maßnahme zur Stärkung des psychosozialen Sicherheitsklimas ist das Programm „Care4Care“ zur Betrieblichen Gesundheitsförderung in Pflegeeinrichtungen. Es besteht aus Online-Trainings zur Stärkung der psychischen Gesundheit der Beschäftigten und zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Einrichtungen. Diese werden ergänzt durch E-Assesments, E-Coachingangebote und Team-Workshops vor Ort. Das teildigitale Programm Care4Care, das vom AOK-Bundesverband in Kooperation mit der Wissenschaft entwickelt und erprobt worden ist, bietet die Möglichkeit, flexibel auf Umfeldveränderungen zu reagieren und bedarfsgenau Angebote für einzelne Pflegekräfte, ganze Teams und Führungskräfte zur Verfügung zu stellen. Eine wissenschaftliche Evaluation des Programms konnte auch zeigen, dass durch die Nutzung des Programms das psychosoziale Sicherheitsklima verbessert werden konnte, so Prof. Dr. Antje Ducki. pm