
Schritt für Schritt wird in der EU der Einsatz absichtlich zugesetzter Mikroplastikpartikel in kosmetischen Produkten verboten. Dieser längst überfällige Schritt für Umwelt und Gesundheit ist auch ein Wendepunkt für die gesamte Kosmetikindustrie. Foto: Valentyna – KI-generiert/stock.adobe.com
Neue EU-Verordnung: Mikroplastik hat in moderner Kosmetik keine Zukunft mehr
Waschgel, Make-up, Lippenpflege – viele Produkte, die täglich in unseren Badezimmern stehen, enthalten winzige Kunststoffpartikel, die mit jedem Abwaschen im Abfluss verschwinden. Was harmlos klingt, hat massive Folgen: Mikroplastik gelangt so in Böden, Gewässer und schließlich in unseren Körper. Mit der neuen EU-Verordnung soll damit nun Schluss sein.
Schritt für Schritt wird der Einsatz absichtlich zugesetzter Mikroplastikpartikel verboten – ein längst überfälliger Schritt für Umwelt und Gesundheit, aber auch ein Wendepunkt für die gesamte Kosmetikindustrie. Rolf Stehr, Founder und Creative Director von Stehr Cosmetics aus der Schweiz, erklärt, was die Regelung konkret bedeutet, spricht über die Hintergründe, Chancen und Herausforderungen dieser Umstellung – und darüber, worauf Verbraucher künftig achten sollten.
Was regelt die neue EU-Verordnung zu Mikroplastik?
Rolf Stehr: „Die Verordnung ist Teil der europäischen Chemikaliengesetzgebung (REACH) und soll verhindern, dass Mikroplastik absichtlich in Produkte eingebracht wird, aus denen es später in die Umwelt gelangt. Entscheidend ist: Immer dann, wenn Mikroplastik als Partikel zugesetzt wird und beim Gebrauch freigesetzt werden kann, darf es künftig nicht mehr verwendet werden. Für Verbraucher und Verbraucherinnen bedeutet das: Künstliche Mikroplastikpartikel – also winzige Kunststoffkügelchen oder -fragmente, die sich nicht biologisch abbauen – sollen Schritt für Schritt aus Alltagsprodukten verschwinden. Die Verordnung schreibt zudem Melde- und Kennzeichnungspflichten vor, die deutlich mehr Transparenz darüber schaffen sollen, in welchen Produkten Mikroplastik enthalten ist. Kurz gesagt: Ziel ist es, die Umweltbelastung deutlich zu reduzieren und gleichzeitig Innovationen für nachhaltige Alternativen zu fördern.“
Warum ist Mikroplastik für Kosmetik, Umwelt und Gesundheit so brisant?
Rolf Stehr: „Mikroplastik bezeichnet winzige Kunststoffpartikel, meist kleiner als fünf Millimeter, die gezielt Kosmetikprodukten zugesetzt oder beim Zerfall größerer Kunststoffe freigesetzt werden. In der Beautyindustrie sorgen sie für glatte Texturen, wirken als Schleifkörper in Peelings oder stabilisieren Formulierungen. Das Problem: Diese Partikel verschwinden nicht. Sie gelangen über das Abwasser in Flüsse und Meere, lagern dort Schadstoffe an und werden von Fischen und anderen Lebewesen aufgenommen. Auf diese Weise finden sie sich am Ende auch in unserer Nahrungskette wieder. Studien haben Mikroplastik bereits in Trinkwasser, Honig und sogar im menschlichen Blut nachgewiesen. Dass ein Produkt, das wir uns täglich auf die Haut auftragen, später als Plastikfragment im Organismus eines Meerestiers oder in unserem eigenen Körper landen kann, verdeutlicht die Tragweite. Echte Verantwortung in der Kosmetik zeigt sich nicht im Design, sondern in den Inhaltsstoffen. Deshalb setzen wir schon seit Jahren konsequent auf mikroplastikfreie Formulierungen.“
Welche Produktgruppen sind von der EU-Verordnung betroffen? Wann treten die Verbote in Kraft?
Rolf Stehr: „Die Verordnung ist bereits in Kraft, aber sie greift in mehreren Stufen, um der Industrie Zeit für die Umstellung zu geben. Einige Produkte sind schon heute betroffen: Lose Mikroperlen, Glitterpulver und Glanzgele sind seit 2023 verboten, sofern sie nicht biologisch abbaubar sind. Bei klassischen Pflegeprodukten erfolgt der Ausstieg gestaffelt:
„Rinse-off“-Kosmetika, also abwaschbare Produkte wie Peelings, Duschgele, Shampoos oder Conditioner müssen bis Oktober 2027 ohne Mikroplastik auskommen. Das betrifft vor allem funktionale Polymerpartikel – winzige Kunststoffbestandteile, die Konsistenz und Fließeigenschaften steuern.
„Leave-on“-Kosmetika, die auf der Haut, den Lippen oder im Haar verbleiben, wie Cremes, Lotionen, Seren, Sonnenschutz oder Haarstyling-Produkte dürfen ab Oktober 2029 keine nicht abbaubaren Mikroplastikpartikel mehr enthalten.
Dekorative Kosmetik wie Lidschatten, Rouge, Puder oder Foundation fällt ebenfalls unter diese Frist (bis 2029).
Für besonders komplexe Produktgruppen wie Lippenstifte, Lipgloss, Nagellack oder Glitter-Make-up gilt eine längere Übergangsfrist bis Oktober 2035, da die Entwicklung geeigneter Ersatzmaterialien hier technisch anspruchsvoller ist.
Bei Mikrokapseln in Duft- oder Parfümsystemen endet die Übergangsfrist spätestens 2031, danach dürfen nur noch biologisch abbaubare Alternativen verwendet werden.
Viele Hersteller – auch wir – gehen diesen Schritt jedoch schon früher, weil nachhaltige Rezepturen längst keine Marketingfrage mehr sind, sondern eine zentrale Erwartung der Kundinnen.“
Lange Übergangsfristen sorgen für Kritik – ist sie berechtigt?
Rolf Stehr: „Diese Kritik ist nachvollziehbar, und sie ist nicht unberechtigt. Gleichzeitig muss man bedenken, dass Mikroplastik in vielen Formulierungen nicht einfach ein Zusatz ist, sondern eine funktionale Rolle spielt – etwa für Textur, Stabilität oder Haltbarkeit. Ersatzstoffe zu entwickeln, die dieselbe Performance bieten und gleichzeitig biologisch abbaubar sind, ist komplexe Forschungsarbeit. Die Übergangsfristen geben uns Raum, diese Innovationen sicher und effektiv umzusetzen. Entscheidend ist: Wir nutzen diese Zeit nicht, um abzuwarten, sondern um aktiv neue Standards zu setzen. Damit zeigen wir, dass Mikroplastikfreiheit längst möglich ist, wenn man sie wirklich will.“
Funktionieren nachhaltige Alternativen genauso gut wie klassische Inhaltsstoffe?
Rolf Stehr: „Ja, und das sogar mit positiven Effekten. Heute stehen eine Vielzahl biologisch abbaubarer Alternativen zur Verfügung – zum Beispiel aus Cellulose, Zucker oder Silica –, die Mikroplastik technisch ersetzen können. In manchen Fällen bringen sie sogar zusätzliche Vorteile, etwa ein natürlicheres Hautgefühl, eine verbesserte Verträglichkeit oder ein umweltfreundlicheres Produktionsverfahren. Ein anschauliches Beispiel sind Peelings: Früher enthielten sie häufig winzige Kunststoffkügelchen, heute übernehmen fein gemahlene Aprikosenkerne, Salz oder Zucker diese Funktion – mit demselben Effekt, aber ohne ökologische Risiken. Wichtig ist, dass Forschung und Entwicklung konsequent weitergehen und Nachhaltigkeit von Anfang an in die Produktkonzeption integriert wird. Dann müssen keine Kompromisse gemacht werden – weder bei der Wirksamkeit noch bei der Umweltverträglichkeit.“
Woran erkennt man mikroplastikfreie Produkt? Worauf gilt es beim Einkauf zu achten?
Rolf Stehr: „Ein genauer Blick auf die Inhaltsstoffliste ist der wichtigste Schritt. Begriffe wie Polyethylene, Polypropylene oder Acrylates Copolymer deuten auf Mikroplastik hin. Viele Marken kennzeichnen mikroplastikfreie Produkte inzwischen deutlich auf der Verpackung, und auch Zertifizierungen oder Nachhaltigkeitslabels können eine gute Orientierung bieten. Darüber hinaus spielt Social Media eine immer größere Rolle: Hier zeigen zahlreiche Nachhaltigkeits-Influencerinnen und Beauty-Expertinnen, woran sich problematische Inhaltsstoffe erkennen lassen und welche Alternativen empfehlenswert sind. Diese Form von Aufklärung hilft, sich im Produktdschungel besser zurechtzufinden und bewusster einzukaufen. Und nicht zuletzt gilt: Je stärker der Wunsch nach mikroplastikfreier Kosmetik artikuliert wird, desto größer ist der Druck auf die Branche, ihre Verantwortung wahrzunehmen und nachhaltige Lösungen konsequent umzusetzen.“ pm
Info
Das Schweizer Unternehmen Stehr Cosmetics stellt seit 2008 Kosmetik- und Pflegeprodukte mit naturnahen Formulierungen für die Anwendung auf der Haut her. Kosmetiker, Visagist und Permanent-Make-up-Spezialist Rolf Stehr ist Creative Director von Stehr Cosmetics und das Gesicht hinter der Marke. Weitere Informationen unter www.rolfstehr.com