Wenn die Eltern selbst laufend ins Smartphone starren und nicht miteinander reden, wie sollen sich dann die Sprachentwicklung und Kommunikationsfähigkeit der Kinder entwickeln? Bundesweit sind etwa jedes 15. Mädchen und jeder 10. Junge von Sprachdefiziten (Laut- und Satzbildung, Vokabular, Grammatik) betroffen. Foto: Yuliia/stock.adobe.com

Wenn das Smartphone Kinder verstummen lässt: Sprach- und Sprechstörungen nehmen stark zu

Ein Vater schiebt seinen Nachwuchs in der Sportkarre. Dabei checkt er Nachrichten auf seinem Mobiltelefon. Blickkontakt und Sprechen mit dem Kind: Fehlanzeige. Szenenwechsel: Schulkinder schauen auf dem Pausenhof auf ihr Smartphone statt sich mit Gleichaltrigen auszutauschen. Dies sind nur zwei typische Alltagssituationen, in denen virtuelle Kommunikation an die Stelle direkter Zwiegespräche tritt – mit möglichen Folgen für die Sprachentwicklung Heranwachsender.

Und die scheint laut Daten der KKH Kaufmännische Krankenkasse immer häufiger aus dem Lot zu geraten. Demnach stieg der Anteil der 6- bis 18-Jährigen mit Sprach- und Sprechstörungen von 2008 auf 2023 um rund 77 Prozent. Bundesweit waren 8,6 Prozent der Heranwachsenden in 2023 betroffen, sprich etwa jedes 15. Mädchen und jeder 10. Junge. Bei den 6- bis 10-Jährigen litt sogar rund jedes 6. Kind unter behandlungsbedürftigen Sprachdefiziten wie Problemen bei der Laut- und Satzbildung, begrenztem Vokabular oder auch Grammatikschwächen.

Das ist alarmierend: Innerhalb von nur 15 Jahren stieg der Anteil der 6- bis 18-Jährigen mit Sprach- und Sprechstörungen um rund 77 Prozent. Das Parken der Kinder vor Fernseher, Tablet, PC oder insbesondere dem Smartphone fördert Sprachdefizite. Quelle: KKH/Grafik: KKH

Sprechen statt Tippen und Wischen

Für Vijitha Sanjivkumar vom Kompetenzteam Medizin der KKH sind das alarmierende Zahlen, denn: „Sprache ist der Grundpfeiler für die persönliche Entwicklung eines Menschen. Sie ist das Medium, in dem wir uns unterhalten, lesen und schreiben, denken und fühlen, rechnen und mittlerweile auch digital kommunizieren, zum Beispiel per Mail oder in sozialen Netzwerken. Sie ermöglicht nicht nur zu kommunizieren, sondern auch die Welt zu verstehen, Wissen zu erwerben und soziale Beziehungen zu knüpfen. Deshalb ist es wichtig, dass Eltern von Beginn an gezielt die Sprachentwicklung ihres Kindes unterstützen.“

Das bedeutet: Im Alltag sollte man kontinuierlich altersgerechte Sprachreize anbieten – sei es in Form von Gesprächen, Geschichten vorlesen, gemeinsamem Singen oder auch Puppen- und Rollenspielen. Verbringen Kinder hingegen viel Zeit mit dem Tippen und Wischen auf Smartphone, Tablet oder Spielekonsole statt zu brabbeln, Laute zu bilden oder mit Eltern und Geschwistern zu sprechen, gehen ihnen wertvolle Spracherfahrungen verloren. Denn dabei werden weder Wortschatz und Grammatik weiterentwickelt noch das freie Reden und Interagieren in Gesprächen trainiert.

Bildschirmzeit verringern, Spracherwerb fördern

Das kann die Sprachentwicklung hemmen. Daher ist es keine gute Idee, kleine Kinder vor Bildschirmen zu parken, auch wenn es im hektischen Familienalltag häufig das Mittel der Wahl ist, um sie zu beschäftigen. Fakt ist: Digitale Medien gehören zu einem immer früheren Zeitpunkt zum Leben von Kindern – auch weil wir Erwachsenen ihnen den Umgang damit tagtäglich vorleben.

„Ein wichtiger Schritt zu mehr Zeit für Spracherwerb ist daher, die Bildschirmzeit zu begrenzen und sie möglichst gemeinsam mit dem Nachwuchs zu verbringen“, empfiehlt Vijitha Sanjivkumar. „Hören und sehen Sie sich Beiträge zusammen an und reden Sie mit Ihrem Nachwuchs darüber. So lassen sich Smartphone & Co. gewinnbringend für die Sprachentwicklung einsetzen.“

Defizite beim Sprechen können auch andere Ursachen haben

Neben intensiver Mediennutzung sowie mangelnder Sprachförderung in der Familie können auch eine Hörminderung, erbliche Veranlagung oder ein Schicksalsschlag Ursache für kommunikative Defizite von Kindern und Jugendlichen sein. „Der Spracherwerb ist ein komplexer und individueller Prozess, der sich über viele Jahre erstreckt. Auch wenn die Grundlagen sprachlicher Kompetenz im Kindesalter gelegt werden, entwickelt sie sich in der Regel ein Leben lang weiter – und mit ihr auch die Strukturen im Gehirn, die Sprache verarbeiten“, erklärt Vijitha Sanjivkumar.

„Eltern sollten ihren Nachwuchs dabei mit viel Geduld, Aufmerksamkeit und Lob begleiten. Besteht die Möglichkeit, dass ein Kind zweisprachig aufwächst, kann das seine sprachliche und kognitive Entwicklung fördern. Denn das kindliche Gehirn ist in frühen Jahren besonders aufnahmefähig und profitiert von sprachlicher Vielfalt“, sagt die KKH-Expertin.

Sprachstörungen sind oft gut behandelbar

In jedem Fall sollten vor allem kleine Kinder Sprache so oft wie möglich direkt erleben, hören und sie ohne Druck und Zwänge selbst erproben. Haben Eltern den Eindruck, dass ihr Kind nicht altersgerecht spricht, wenden sie sich am besten an den Kinderarzt. Sprachdefizite werden meist im Rahmen der U-Untersuchungen festgestellt und sind – sofern frühzeitig diagnostiziert – gut behandelbar. Die KKH bietet für versicherte Kinder mit phonetischen beziehungsweise phonologischen Störungen zur Unterstützung einer logopädischen Therapie die Artikulations-App Neolexon an.

Info

Die KKH hat anonymisierte Daten ihrer Versicherten zwischen 6 und 18 Jahren mit der Diagnose F80 nach ICD-10 von 2008 und 2023 erhoben (ohne F 80.2 und F80.3). Im Jahr 2023 waren im Schnitt 8,6 Prozent der Kinder und Jugendlichen betroffen. Der Anteil in den verschiedenen Altersgruppen lag bei den 6- bis 10-Jährigen bei 17,2 Prozent, bei den 11- bis 14-Jährigen bei 5,4 Prozent und bei den 15- bis 18-Jährigen bei 2,3 Prozent.    pm