Die Zahl der somatischen Krankenhaus-Fälle in Baden-Württemberg ist 2022 im Vergleich zum Jahr 2019 um 14 Prozent gesunken. Schuld daran hat das Coronavirus – weil es zu starken Personalausfällen führte. Foto: pressmaster/stock.adobe.com
Weniger Krankenhaus-Fälle im Südwesten: Corona erzwingt Personalengpass
„Corona hatte die Kliniken im Südwesten auch im dritten Jahr der Pandemie fest im Griff – aber aus anderen Gründen als in den ersten Infektionswellen der Jahre 2020 und 2021“, sagt Dr. med. Ralph Bier, Mediziner bei der der AOK Baden-Württemberg.
„Die Fallzahl-Rückgänge im vergangenen Jahr waren nicht mehr durch das Freihalten von Kapazitäten für schwer erkrankte Corona-Patienten bedingt, sondern wesentlich durch die enormen Personalausfälle infolge der Infektionswellen des Jahres 2022 durch die Omikron-Variante.“ Die größten Fallzahl-Rückgänge gegenüber dem Vergleichs-Zeitraum 2019 waren in der ersten Infektionswelle von Januar bis Mai 2022 zu verzeichnen (somatische Fälle minus 17 Prozent, psychiatrische Fälle minus 10 Prozent).
Weiter starke Einbrüche bei ambulant-sensitiven Diagnosen
Die Aufschlüsselung der Zahlen nach Behandlungsanlässen im stationären Bereich bis Oktober 2022 zeigt: Die stärksten Einbrüche gab es in Baden-Württemberg erneut bei den sogenannten ambulant-sensitiven Diagnosen, die sowohl im Krankenhaus als auch von entsprechend qualifizierten niedergelassenen Ärzten adäquat behandelt werden können. So waren bei Bluthochdruck (minus 43 Prozent) sowie Rückenschmerzen (minus 37 Prozent) die größten Rückgänge gegenüber dem Vergleichsjahr 2019 zu verzeichnen, gefolgt von der chronischen Lungenerkrankung COPD (minus 29 Prozent), Diabetes (minus 25 Prozent) und Herzinsuffizienz (minus 15 Prozent).
„Schon in den ersten beiden Jahren der Pandemie gab es Rückgänge in vergleichbarer Größenordnung. Unter der Annahme, dass diese Patienten zu einem großen Teil dennoch ärztliche Hilfe in Anspruch genommen haben, wirkt sich Corona hier offenbar beschleunigend im Sinne der in Baden-Württemberg dringend gebotenen stärkeren Ambulantisierung aus. Bei einzelnen Diagnosen dürfte angesichts der großen und anhaltenden Einbrüche auch der Abbau von Überversorgung eine Rolle spielen“, sagt Dr. Bier.
Stabile Zahlen bei Hüftgelenks-Implantationen – deutlich weniger Mandel-Operationen
Im Gegensatz zu den beiden Vorjahren haben sich die OP-Zahlen hierzulande bei den planbaren Hüftgelenks-Implantationen trotz der Omikron-Wellen normalisiert (1 Prozent). Erneut starke Einbrüche gab es dagegen bei den Mandel-Operationen (minus 37 Prozent).
„Eine Ursache könnte sein, dass die Hygieneregeln während der Pandemie das Auftreten von Mandelentzündungen verringert haben. Doch die Rückgänge könnten auch auf einen Abbau von Überversorgung hindeuten“, so Bier. „Studien und Analysen zeigen nämlich, dass diese Eingriffe in der Vergangenheit häufig ohne leitliniengerechte Indikation durchgeführt wurden.“
Rückgang bei Darmkrebs-OPs noch größer als in den beiden Vorjahren
Bei den Brustkrebs-OPs gab es in Baden-Württemberg einen Rückgang von 7 Prozent gegenüber 2019. Noch ausgeprägter ist die Entwicklung der Darmkrebs-Operationen. Diese gingen gegenüber der Zeit vor der Pandemie um 15 Prozent zurück – und damit noch stärker als im ersten (minus 9 Prozent) und zweiten Pandemiejahr (minus 14 Prozent). „Das könnte mit dem reduzierten Umfang der Darmspiegelungen zu tun haben, die sich bereits in früheren Auswertungen des WIdO gezeigt haben“, erklärt Dr. Ralph Bier.
Weniger Herzinfarkt- und Schlaganfall-Behandlungen
Auffällig ist auch der anhaltende Rückgang der Fallzahlen bei den Herzinfarkten und Schlaganfällen, der in den WIdO-Daten bis Oktober 2022 zu sehen ist: Die Herzinfarkt-Behandlungen im Südwesten sind gegenüber 2019 um 11 Prozent zurückgegangen, die Schlaganfall-Behandlungen um 7 Prozent. Damit gab es bei diesen Notfällen sogar noch stärkere Rückgänge als im ersten und zweiten Pandemie-Jahr.
„Wir können uns das nicht hundertprozentig erklären. Die Daten deuten darauf hin, dass die Rückgänge bei den leichteren Infarkten und Schlaganfällen höher sind. Offenbar sind insbesondere Menschen mit milderen Symptomen weniger im Krankenhaus behandelt worden“, so Bier. Es gelte weiter der Appell, bei diesen Notfällen unbedingt und ohne Zögern den Rettungsdienst zu alarmieren.
Anteil der schweren Covid-19-Erkrankungen deutlich gesunken
Das WIdO hat in seiner Auswertung auch die Entwicklungen bei den stationär behandelten Patientinnen und Patienten betrachtet, die wegen Covid-19 im Krankenhaus waren. Im Zuge der Omikron-Wellen hat der Anteil der Patientinnen und Patienten, die nicht primär wegen Covid-19 im Krankenhaus waren, aber diese Diagnose dennoch aufwiesen, im Jahr 2022 in Baden-Württemberg deutlich zugenommen. Für einen konsistenten Vergleich über die Pandemiewellen hinweg wurde die Auswertung daher auf Patientinnen und Patienten beschränkt, bei denen Covid-19 der primäre Behandlungsanlass war.
Der Vergleich der bisherigen Pandemiewellen zeigt, dass der Anteil der schweren Erkrankungen in den beiden Omikron-Wellen des Jahres 2022 deutlich gesunken ist. So sank der Anteil der beatmeten Patientinnen und Patienten in der sechsten Pandemiewelle von Juni bis September 2022 auf 6 Prozent. Zum Vergleich: In der vierten Welle Ende 2021 waren es noch 23 Prozent gewesen.
Sterblichkeit bei beatmeten Covid-19-Patienten bei 44 Prozent
Auch die Sterblichkeit lag im Südwesten in den beiden Omikron-Wellen mit 17 beziehungsweise 12 Prozent deutlich niedriger als noch in der vierten Pandemiewelle von Oktober bis Dezember 2021 mit 22 Prozent. In der dritten Pandemiewelle von März bis Mai 2021 hatte die Sterblichkeit schon einmal bei 16 Prozent gelegen. In dieser Phase der Pandemie dürfte jedoch vor allem das niedrige Durchschnittsalter der Patientinnen und Patienten von 61 Jahren dazu beigetragen haben. In den ersten beiden Pandemiewellen hatte es noch bei 68 beziehungsweise 69 Jahren gelegen, in der Omikron-Welle Anfang 2022 waren es dann 72 Jahre.
Allerdings bleibt die Sterblichkeit bei den beatmeten Patientinnen und Patienten in Baden-Württemberg unverändert hoch: Sie liegt in der sechsten Pandemiewelle bei 44 Prozent. Von den beatmeten Patienten sind 57 Prozent Männer. Auffallend ist die kontinuierlich abnehmende Beatmungsdauer. Lag diese in der ersten Pandemiewelle noch bei durchschnittlich 15 Tagen, so waren es in der sechsten Pandemiewelle Mitte 2022 nur noch 8 Tage. „Die Daten spiegeln wider, dass die Omikron-Variante des Virus glücklicherweise seltener zu schweren Krankheitsverläufen führt als die Vorgänger-Varianten des Coronavirus“, erläutert Dr. Bier die Ergebnisse.
So wurden die Zahlen ausgewertet
Die Auswertung des WIdO zu den Krankenhaus-Fallzahlen basiert auf den Abrechnungsdaten der AOK-Versicherten, die etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung abbilden. Basis für die Covid-19-Analysen waren die Daten von Patientinnen und Patienten, die wegen Covid-19 – also mit bestätigter Covid-19-Diagnose und für diese Erkrankung relevanter Hauptdiagnose im Krankenhaus waren. Ausgewertet wurden die Daten von rund 32.000 Patientinnen und Patienten, die vom 1. Februar 2020 bis zum 30. September 2022 in den baden-württembergischen Krankenhäusern aufgenommen worden sind. pm