
Es gibt sowohl Rehakliniken mit Expertise in der Behandlung von MS als auch Akutkliniken, die als MS-Fachkliniken ein besonderes Behandlungsangebot vorhalten. In der Reha kommen neben den medizinischen Angeboten aufeinander abgestimmte Krankengymnastik, Ergotherapie, Sprachtherapie, physikalische Therapie und Neuropsychologie zum Einsatz. Foto: Matthias Stolt/stock.adobe.com
Welt-MS-Tag: Die Diagnose akzeptieren, um eine neue Lebensperspektive zu entwickeln
Die Diagnose MS bedeutet für die Erkrankten und ihr Umfeld einen tiefen Einschnitt, nicht zuletzt, weil sie große Unsicherheit für die Zukunft mit sich bringt. Denn Multiple Sklerose kann individuell höchst unterschiedlich verlaufen – eine Prognose über den Krankheitsverlauf ist kaum möglich. Neben der bestmöglichen medizinischen Behandlung kommt es daher auch auf Unterstützung bei der Krankheitsbewältigung an, um die psychischen, sozialen und finanziellen Folgen für die Betroffenen einzudämmen.
Anlässlich des Welt-MS-Tags am 30. Mai 2025 informierten Experten der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) bei der SPRECHZEIT-Telefonaktion für Vital-Region-Leser. Hier einige der häufigsten oder wichtigsten Fragen und Antworten zum Nachlesen:
Wie erhalte ich eine gesicherte MS-Diagnose?
Prof. Dr. Judith Haas: Basis nach den internationalen Diagnosekriterien ist eine ausführliche Anamnese und neurologische Untersuchung. Unterschieden wird zwischen einem schubförmigen und einem langsam fortschreitenden Verlauf. Diagnostisch unverzichtbar sind bildgebende Untersuchungen von Gehirn und Rückenmark mit dem Nachweis typischer MS-Herde sowie – in der Regel – die Untersuchung der Rückenmarksflüssigkeit. Gleichzeitig sind Krankheiten mit ähnlicher Symptomatik auszuschließen. Wichtig ist, dass sowohl der Arzt als auch der Patient die Diagnose als gesichert ansehen. Unter Umständen kann es helfen, eine Zweitmeinung einzuholen, zum Beispiel die Meinung einer von der DMSG zertifizierten Praxis.
Was geschieht nach der Diagnose?
Prof. Dr. Judith Haas: Nach der Diagnose kann der weitere Verlauf der Erkrankung zum einen durch einen gesunden Lebensstil entscheidend beeinflusst werden, zum anderen durch den frühen Einsatz einer individuell angepassten Immuntherapie. Umfassende Informationen zu den einzelnen Wirkstoffen, wie die DMSG sie mit ihren Patientenhandbüchern bereitstellt, helfen Erkrankten, gemeinsam mit dem Arzt zu entscheiden, welche Immuntherapie als Ersttherapie in Frage kommt. Bei vielen Erkrankten und ihren Angehörigen wirft die Diagnose MS zudem Fragen zur weiteren Lebensplanung auf. Die Beratungsstellen der DMSG verstehen sich hier als sozialmedizinisches Leitsystem zu Themen wie Beruf, Familienplanung oder Lebensstil, aber auch als Wegweiser zu spezialisierten MS-Praxen und -Kliniken.
Warum fällt eine Prognose über den Krankheitsverlauf so schwer?
PD Dr. med. Klarissa H. Stürner: Multiple Sklerose ist trotz aller Erkenntnisfortschritte der letzten Jahre eine sehr individuell verlaufende Erkrankung. Ihren Verlauf beeinflussen so unterschiedliche Faktoren wie die ererbte Erholungsfähigkeit, entzündliche Aktivität und verschiedene Lebensstilfaktoren. Man kann trotz der bekannten Krankheitsmechanismen sagen, dass jede MS so individuell ist, wie der Mensch, der an ihr erkrankt.

Was bedeuten die verschiedenen Verlaufsformen für die Prognose?
PD Dr. med. Klarissa H. Stürner: Nach aktueller Betrachtungsweise sind die Verlaufsformen weniger als Unterform der MS-Erkrankung zu verstehen. Sie geben vielmehr einen Hinweis darauf, in welchem Zeitabschnitt der MS-Erkrankung sich ein Patient befindet. Eine progressive MS ist eher als eine spätere Erscheinungsform der Erkrankung zu verstehen, in der klassische antientzündliche Therapien den Verlauf weniger gut beeinflussen und dafür andere unterstützende Therapiemaßnahmen wichtiger werden. Wie man einen progressiven Verlauf sicher beeinflussen kann, ist weiterhin eine ungelöste Frage und Fokus neuer Forschungsansätze weltweit.
Kann man zu Beginn der Erkrankung schon eine Behinderung durch die MS abschätzen?
Prof. Dr. med. Ingo Kleiter: Ja, bis zu einem gewissen Grad. Ungünstige Prognosefaktoren sind männliches Geschlecht, höheres Alter bei Erkrankungsbeginn, ein primär-progredienter Verlauf, eine hohe oder rasch zunehmende MRT-Läsionslast und ein hoher Serum-NfL-Wert. Günstige Faktoren sind weibliches Geschlecht, jüngeres Alter und eine gute Schubremission – also die Rückbildung der Schubsymptome. Diese Vorhersagen dienen hauptsächlich zur Therapieplanung, da eine frühe hochwirksame Immuntherapie die Prognose erheblich verbessern kann.
Was versteht man unter einer Immuntherapie?
Prof. Dr. med. Ralf Gold: Anders als die Therapie des akuten Schubs ist die Immuntherapie eine verlaufsmodifizierende, langfristige Behandlung. Ihr Ziel ist es, die Schwere und Häufigkeit von Schüben zu verringern und das Fortschreiten der Erkrankung zu beeinflussen. Der Therapieansatz ist die Regulierung des bei MS fehlgesteuerten, überaktiven Immunsystems, das Teile des Nervensystems attackiert.
Woran merke ich, dass ich gerade einen Schub erleide?
Priv.-Doz. Dr. med. Karl Baum: Für einen Schub sprechen neue Symptome oder das Wiederauftreten früherer Symptome, wenn die Symptome über mehr als 24 Stunden anhalten oder mehrfach in dieser Zeit episodenhaft auftreten, und ein zeitlicher Mindestabstand von 24 Stunden zum Beginn des vorangegangenen Schubes vorliegt. Wichtig: Diese Symptome dürfen nicht durch äußere Einflüsse, zum Beispiel hohe Temperatur, einen Infekt oder starke Erschöpfung verursacht sein. Auch anderweitige physische oder organische Ursachen müssen ausgeschlossen sein.

Gibt es Umstände, die einen Schub auslösen können, zum Beispiel Stress?
Priv.-Doz. Dr. med. Karl Baum: Schübe können mit Ereignissen in Verbindung stehen, die sich negativ auf das Immunsystem auswirken. So geht Schüben oftmals eine Infektion voraus. Aber auch ein negativ erlebter Stress, psychische Belastungen oder Schlafmangel können im Einzelfall an der Auslösung eines Schubs beteiligt sein.
Wie sieht die Therapie bei einem Krankheitsschub aus?
Prof. Dr. med. Ralf Gold: Als Standardtherapie gilt nach wie vor die hochdosierte Kortison-Stoß-Therapie, die üblicherweise als Infusion über mehrere Tage hinweg verabreicht wird. Unter Umständen wird die Therapie nach einer Pause wiederholt. Spricht der Patient nicht auf die Kortison-Therapie an, steht mit der Plasmapherese ein Verfahren zur Verfügung, bei dem bestimmte schädliche Bestandteile aus dem Blut „gewaschen“ werden.
Welche Therapien stehen bei einem progredienten Verlauf zur Verfügung?
Prof. Dr. med. Ralf Gold: Von einem progredienten Verlauf sprechen wir, wenn die MS-Symptome kontinuierlich zunehmen, also nicht in einem schubförmigen Verlauf. Ist dies von Beginn an der Fall, liegt eine – eher seltene – primär progrediente Verlaufsform vor (PPMS). Häufiger ist die sekundär progrediente MS (SPMS), bei der zunächst Schübe auftreten die dann – oftmals nach langer Krankheitsdauer – in eine kontinuierliche Verschlechterung übergehen. Je nach Verlaufsform stehen unterschiedliche Medikamente zur Verfügung.
Zu Beginn der Therapie war ich guter Dinge, jetzt falle ich immer wieder in depressive Stimmung. Wo bekomme ich Hilfe?
Prof. Dr. med. Ingo Kleiter: Depressive Verstimmungen treten bei MS bei 30 bis 50 Prozent der Erkrankten auf. Ihre Ursachen können sowohl krankheitsbedingt als auch psychosozialer Natur sein. Die gute Nachricht: Sie werden damit nicht allein gelassen. Erste Anlaufstellen sind Ihr behandelnder Neurologe oder Hausarzt, MS-Schwerpunktzentren mit Psychologen, sowie spezialisierte Psychotherapeuten oder Psychiater, die Erfahrung mit chronischen Erkrankungen haben. Zusätzlich bieten Selbsthilfegruppen und telefonische Beratungshotlines wie die der DMSG Unterstützung und vermitteln geeignete Hilfsangebote.
Gibt es spezielle Reha-Angebote? Wie finde ich eine MS-Spezialklinik?
Dr. med. Dieter Pöhlau: Es gibt sowohl Rehakliniken mit Expertise in der Behandlung von MS als auch Akutkliniken, die als MS-Fachkliniken ein besonderes Behandlungsangebot vorhalten. Während für die Akutklinik eine akutstationäre Behandlungsnotwendigkeit gegeben sein muss, wird eine Reha beantragt, was einen längeren Vorlauf erfordert. Neben den medizinischen Angeboten kommen aufeinander abgestimmte Krankengymnastik, Ergotherapie, Sprachtherapie, physikalische Therapie und Neuropsychologie zum Einsatz. MS-Fachkliniken führen auch Blutwäscheverfahren sowie neurourologische Diagnostik und Behandlungen durch. Die Mehrzahl der Reha- und Fachkliniken erfüllt die hohen Standards der DMSG-Zertifizierung. Ein Verzeichnis der Einrichtungen finden Sie unter www.ms-wissen.de.
Was kann ich selbst für den Erhalt meiner Lebensqualität mit MS tun?
Dr. med. Dieter Pöhlau: Nach dem Schock der Diagnose geht es für viele Erkrankte darum, ihre Diagnose zu verarbeiten und zu akzeptieren, um eine neue Lebensperspektive zu entwickeln. Dazu braucht es häufig Unterstützung, in einzelnen Fällen auch psychotherapeutische Begleitung. Die Basis für eine gute Lebensqualität mit MS ist eine bestmögliche therapeutische Versorgung, um Symptome und Fortschreiten der Erkrankung einzudämmen. Vielen Erkrankten hilft es, sich zu vernetzen, zum Beispiel über die Plattform „Connect“ der DMSG. Zusätzlich bietet die DMSG ein breites Beratungsspektrum zu fast allen Lebenslagen mit MS an. Es ist wichtig zu wissen, dass für die allermeisten MS-Erkrankten eine normale Lebensplanung möglich ist, samt Familienplanung, Kindern, Freunden, Hobby und einem guten Umfeld am Arbeitsplatz.
Muss ich meinen Arbeitgeber über die Diagnose informieren?
Prof. Dr. Judith Haas: Sie sind nicht verpflichtet, Ihren Arbeitgeber über ihre Diagnose zu informieren. Eine Informationspflicht besteht allerdings, wenn Ihre eigene oder die Sicherheit anderer durch die Art der Arbeit gefährdet ist. In bestimmten Situationen kann es hilfreich sein, dem Arbeitgeber die Erkrankung mitzuteilen, etwa um Verständnis für häufigere Pausen zu finden. Die DMSG arbeitet mit speziellen Informationen für Arbeitgeber daran, Vorurteile abzubauen und damit eine bessere Integration von Menschen mit MS am Arbeitsplatz zu erreichen.
Wann steht mir mit MS eine Erwerbsminderungsrente zu?
Prof. Dr. med. Ingo Kleiter: Eine teilweise Erwerbsminderungsrente steht Ihnen zu, wenn Ihre Arbeitsfähigkeit auf weniger als sechs Stunden täglich reduziert ist, eine volle Erwerbsminderungsrente bei unter drei Stunden täglich. Sie müssen mindestens fünf Jahre in die Rentenversicherung eingezahlt haben. Die Bewertung erfolgt durch den Medizinischen Dienst der Rentenversicherung. Für eine Beratung können Sie sich an Ihre Rentenversicherung wenden – oder besser vorab an Sozialberater der DMSG oder des VdK, da Anträge leider oft zunächst abgelehnt werden.
Wo bekommen Betroffene und Angehörige Unterstützung bei der Alltagsbewältigung?
Dr. med. Dieter Pöhlau: Wir sind hierzulande in der glücklichen Lage, dass viele Hilfen angeboten werden. Allerdings wissen nicht alle MS-Erkrankten, welchen Unterstützungsanspruch sie haben. Für mehr Durchblick sorgt hier die Beratung durch die DMSG, sowohl digital über das Internetangebot als auch persönlich über die telefonische MS Helpline unter 0800–5252022. Auch eine unabhängige Pflegeberatung vor Ort sowie die Sozialdienste in Kliniken können in vielen Situationen helfen. pm
Info
Die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) vertritt die Belange der rund 280.000 MS-Erkrankten in Deutschland, organisiert deren sozialmedizinische Nachsorge und bietet ihnen und ihren Angehörigen professionelle Information, Beratung und Unterstützung. Sie fördert zudem die Grundlagenforschung und aussichtsreiche Forschungsprojekte, um neue Behandlungsmethoden möglichst frühzeitig aufzuspüren. Um die Lebensqualität von MS-Erkrankten weiter zu verbessern und ihnen ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, bietet die DMSG ein breites Spektrum an Unterstützungsleistungen an, darunter die MS Helpline, die unter Telefon 0800– 5252022 aus allen deutschen Netzen gebührenfrei erreichbar ist. Mehr Infos unter www.dmsg.de
Die Experten in der Sprechzeit waren:
- Prof. Dr. med. Ralf Gold; Facharzt für Neurologie; Direktor der Neurologischen Klinik der Ruhr-Universität Bochum am St. Josef-Hospital; Vorsitzender im Ärztlichen Beirat der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft, Bundesverband e.V. (DMSG)
- Prof. Dr. med. Judith Haas; Fachärztin für Neurologie; Vorsitzende der DMSG, Bundesverband e.V. und Vorstandsmitglied im Ärztlichen Beirat DMSG Bundesverband
- Dr. med. Dieter Pöhlau; Facharzt für Neurologie;Ärztlicher Direktor der DRK Kamillus Klinik Asbach, stellvertretender Vorsitzender DMSG-Bundesverband
- Prof. Dr. med. Ingo Kleiter; Facharzt für Neurologie; medizinischer Geschäftsführer und ärztlicher Leiter Behandlungszentrum Kempfenhausen für Multiple Sklerose – Kranke, gemeinnützige GmbH, Berg; Vorsitzender im ärztlichen Beirat der DMSG Bayern
- PD Dr. med. Klarissa H. Stürner; Fachärztin für Neurologie; Oberärztin Neuroimmunologische Ambulanz und Leitung der neurologischen Tagesklinik, Klinik für Neurologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel
- Priv.-Doz. Dr. med. Karl Baum; Facharzt für Neurologie, Hennigsdorf; Vorsitzender im Vorstand der DMSG, Landesverband Berlin und stellvertretender Vorsitzender im Ärztlichen Beirat Landesverband Brandenburg