Auf Handtherapie spezialisierte Ergotherapeuten leiten Patienten an, wie sie den Druck auf den Mittelarmnerv minimieren können. Sie erklären und zeigen ihnen weitere entlastende Verhaltensweisen, die bestenfalls eine OP am Karpaltunnel hinauszögern oder sogar vermeiden helfen. Bildrechte/Foto: Deutscher Verband Ergotherapie e.V. (DVE)/iStock/South_agency

Karpaltunnelsyndrom: Auf erste Anzeichen achten, um OP hinauszuzögern oder zu vermeiden

Probleme am Karpaltunnel treten häufig auf: Jeder Sechste hat im Laufe seines Lebens damit zu tun. „Die anfänglichen Symptome beim Karpaltunnelsyndrom können zunächst etwas diffus sein; nicht immer sind erste Anzeichen eindeutig zu erkennen, was oft dazu führt, dass unnötig viel Zeit bis zum ersten Arztbesuch verstreicht“, berichtet Benjamin Backes aus den Erfahrungen in seiner ergotherapeutischen Praxis.

Der Ergotherapeut im Deutscher Verband Ergotherapie e.V. (DVE) rät Betroffenen oder Personen, die beispielsweise aufgrund einer genetischen Disposition (Erbanlage) betroffen sein könnten, frühzeitig eine ärztliche Diagnose einzuholen. In vielen Fällen lässt sich eine OP am Karpaltunnel durch eine Intervention bei spezialisierten Ergotherapeuten hinauszögern oder sogar ganz vermeiden.

Anfangs ein leichtes Kribbeln in den Fingerspitzen

Die Anzeichen eines sich entwickelnden Karpaltunnelsyndroms können leichtes Kribbeln in den Fingerspitzen, teilweise auch im Arm, oder taube Finger sein – genauer gesagt: der Daumen und die Finger bis zum halben Ringfinger. Dies ist auf eine Kompression des Nervus medianus, dem Mittelarmnerv, zurückzuführen. Der Medianusnerv versorgt Hände, Finger und Teile des Unterarms, wo er am Übergang zur Handfläche den Karpaltunnel überwinden muss.

Ist diese Engstelle aufgrund einer erblichen oder mechanischen Be- oder Überlastung verengt, kommt es zu den genannten Symptomen oder auch zu Problemen im Arm, die Betroffene dann erst recht nicht zuordnen können. Ohne entsprechende Behandlung nehmen die Symptome zu. Es kann im schlimmsten Fall sogar dazu kommen, dass Nerven absterben. Ein Grund mehr, den Arzt zu konsultieren.

Der lange Weg zur Diagnose

„Die Leidensfähigkeit von Menschen ist immer wieder erstaunlich groß“, weiß Ergotherapeut Backes: „Oft suchen Betroffene sehr spät ärztliche Hilfe“. Der übliche Weg ist, zunächst zum Hausarzt oder zum Orthopäden zu gehen; von dort erfolgt jedoch meist recht zügig die Überweisung zu Neurologen. Die Wartezeiten bei diesen Ärzten betragen in aller Regel mehrere Wochen, je nach Wohnort sogar Monate. Wertvolle Zeit, in der sich der Zustand verschlechtert und die Chancen, ohne Operation auszukommen, verringern.

Stellt ein Neurologe nach einer hierfür nötigen Nervenleitgeschwindigkeitsmessung die Diagnose „Karpaltunnelsyndrom“, erhalten Betroffene ein Rezept für Handtherapie. Darauf spezialisierte Ergotherapeuten verfügen über eine Reihe von Möglichkeiten, die Beschwerden von Menschen mit einem Karpaltunnelsyndrom zu lindern. Am Anfang ihrer Behandlung steht die Edukation, also Aufklärung, zum Krankheitsbild.

So erfahren die meist weiblichen Patienten, dass neben dem familiär bedingten Risiko höhere Gewichtsbelastungen bei der Arbeit ebenso wie im privaten Bereich oder durch Haus- und Gartenarbeiten das Platzproblem im Karpaltunnel verstärken. Altersbedingt lässt die Spannkraft des Bindegewebes nach und auch das kann dazu führen, dass sich die Situation im Karpaltunnel verschärft. Möglicherweise spielen auch die Hormone eine Rolle, aber ganz geklärt ist dies allerdings noch nicht.

Nerven mobilisieren, lösen, Druck nehmen

„Wir können immer positiv intervenieren“, sagt Backes und betont: „Viele OPs am Karpaltunnel ließen sich vermeiden oder hinausschieben.“ Eine erste Maßnahme ist, eine Nachtlagerungsschiene zu bauen oder eine fertig konfektionierte Orthese zu verwenden, sofern diese passt. Die Schiene sorgt für eine leichte Extensionslagerung, die den Druck vom Nerv nimmt. So kann er sich meist schon gut erholen und das in der Nacht, so dass Betroffene keine Einschränkungen in ihrem Alltag in Kauf nehmen müssen.

Parallel leiten Ergotherapeuten ihre Patienten in Sachen Nervenmobilisation an: Sie zeigen ihnen, mit welchen Übungen die Nerven in Gleitbewegung kommen, sich lösen und immer weiter aus der Kompression im Karpaltunnel befreien. Ebenso erfahren Patienten, welche Positionen oder Zwangshaltungen sie meiden sollen, wie sie Abwechslung in die verschiedenen Haltungen bringen und die Muskulatur lockern können.

Backes – und das handhaben auch andere Ergotherapeuten so oder ähnlich – filmt die Patienten mit deren eigenem Handy, wenn sie ihre Übungen unter seiner Anleitung machen. Das erleichtert das häusliche Training und gewährleistet zudem, dass die jeweils individuell passenden und nötigen, in einer bestimmten Art und Weise praktizierten Übungen zu sehen sind und nicht irgendwelche, die zu allgemein oder nicht oder nur teilweise geeignet sind. Zusätzlich haben Patienten die Möglichkeit, speziell für das Karpaltunnelsyndrom ausgearbeitete Übungsblätter zu erhalten.

Karpaltunnel plus weitere anatomische Aspekte begutachten

Neben Übungen, die die Patienten zuhause regelmäßig machen, setzen Ergotherapeuten bei der Intervention in ihrer Praxis auf Geräte wie Ultraschall und Laser. Eine Methode, die Ultraschall mit Strom kombiniert, erzielt laut dem Ergotherapeuten Backes ebenfalls in vielen Fällen sehr gute Erfolge. Auch Tapen ist hilfreich. Allerdings zeigen immer mehr Menschen allergische Hautreaktionen – leider, denn Tapen ist eine sehr unkomplizierte Option, um eine Entlastung zu bewirken. Ebenso nimmt die manuelle Therapie einen wichtigen Platz bei der Behandlung des Karpaltunnelsyndroms ein.

„Ausschlaggebend für eine erfolgreiche Therapie sind jedoch noch weitere Aspekte“, betont Backes. Der Ergotherapeut betrachtet immer auch sämtliche anatomische Gegebenheiten. „Es ist so, dass der Nervus medianus nicht nur eine Engstelle zu passieren hat – der Karpaltunnel ist nur eine zusätzliche Einengung; der Nerv kann beispielsweise schon in der Schulter gereizt sein“.

Daher findet Backes eine Ausschlussdiagnostik so wichtig. „Nicht nur den Karpaltunnel im Blick haben, sondern auch alle anderen Erkrankungen in Betracht ziehen“, sagt er. Erkrankungen der Brustwirbelsäule wie degenerative Knorpel- und Knochenveränderungen oder Bandscheibenvorfälle, eine Läsion des Nervus medianus in der Höhe des Halswirbels oder im Unterarm führen ebenfalls zu ähnlichen Symptomen wie das Karpaltunnelsyndrom.

„Aus therapeutischer Sicht ist es sinnvoll, den Blick auf alle Extremitäten und den gesamten Nervenverlauf zu richten, zu schauen: wie ist die Haltung, gibt es Muskelverspannungen oder zeigt der oder die Patientin andere Zeichen, die zu berücksichtigen sind und danach gestalten wie die Therapie“, bringt Backes die Arbeit von Ergotherapeuten in diesem Bereich auf den Punkt.

Ergotherapie sichert Erfolg der Karpaltunnel-OP

Sehen Ergotherapeuten, dass die Intervention keinen Erfolg hat und sich der Zustand verschlechtert, ist eine Operation am Karpaltunnel unausweichlich. „Die ergotherapeutische Arbeit war aber auch dann nicht sinnlos, denn es ist so, dass Patienten, die zuvor gut aufgebaut wurden, mit besseren Erfolgschancen in die OP gehen“, so Backes. Genauso verhält es sich mit der ergotherapeutischen Nachversorgung. Im Idealfall erhalten Patienten nach einer OP am Karpaltunnel eine Verordnung für eine ergotherapeutische Nachversorgung. Die Kosten sind bei Zuordnung zur Diagnosegruppe SB 1 für die Verordner seit April dank Blankoverordnung budgetneutral.

So können Ergotherapeuten selbst entscheiden: Sind die Operierten bestenfalls in der Lage, mit einem einzigen Termin zu erfassen, wie sie sich ab jetzt verhalten müssen, damit die OP auch dauerhaft erfolgreich bleibt? Oder handelt es sich um Patienten, die mehr Führung und Anleitung benötigen oder Probleme haben? Im Sinne einer optimalen Versorgung und um den weiteren Erfolg der OP am Karpaltunnel zu gewährleisten, betreuen Ergotherapeuten diese Patienten individuell. Sie leiten sie beim Üben an, versorgen und mobilisieren die Narbe und befähigen sie, wieder gut in ihrem Alltag zurechtzukommen, ohne dabei in alte Gewohnheiten zurückzufallen. pm

Ergotherapeuten in Wohnortnähe findet man auf der Homepage des Verbandes unter https://dve.info/service/therapeutensuche