Im Jahr 2022 waren insgesamt 1,1 Prozent aller bei den hkk Krankenkassen versicherten Jungen beziehungsweise jungen Männer im Alter von 0 bis 24 Jahren von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) betroffen. Foto: EvgeniiAnd/stock.adobe.com
Immer mehr Kinder leiden unter Autismus – Jungen öfter betroffen
Weltweit werden immer mehr Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) bei Kindern und Jugendlichen gemeldet. Derzeit wird der Anteil der Personen mit autistischen Störungen an der Gesamtpopulation mit 0,5 bis 1 % angegeben. Die Betroffenenquote hat sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt von 0,4 % in 2013 bis 0,8 % in 2022.
Jungen sind mehr als doppelt so häufig betroffen
Im Jahr 2022 waren insgesamt 1,1 Prozent aller bei den hkk Krankenkassen versicherten Jungen beziehungsweise jungen Männer im Alter von 0 bis 24 Jahren von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) betroffen. Mehr als doppelt so häufig wie weibliche Versicherte in dieser Altersgruppe (0,5 %). In anderen Studien waren Jungen sogar drei- bis viermal häufiger betroffen.
Vor allem genetische, aber auch hormonelle und soziale Ursachen werden als Ursache für die Diskrepanz diskutiert. Ein Bremer Kinder und Jugendarzt sowie Landesvorsitzender des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzt*innen in Bremen, Dr. Stefan Trapp, erklärt, dass betroffene Mädchen stärkere psychiatrische Begleiterkrankungen aufweisen müssen, um eine ASS-Diagnose zu erhalten: „Vermutet wird auch, dass betroffene Mädchen und Frauen wegen unterschiedlicher geschlechtsspezifischer Verhaltensweisen soziale Beeinträchtigungen teilweise besser kompensieren können als ihre gleich stark betroffenen männlichen Altersgenossen.“
Autismus – Störung oder Eigenart?
Autismus wird laut ICD-10 als Entwicklungsstörung des zentralen Nervensystems angesehen und diagnostisch in fünf Subgruppen unterteilt. Laut Datenanalyse haben die meisten „Frühkindlichen Autismus“ (36,8 %) und „Asperger-Syndrom“ (31,9 %). Da sich die unterschiedlichen Formen überschneiden und verschiedene Ausprägungsgrade auftreten können, wird zukünftig im neuen ICD-11 der Oberbegriff „Autismus-Spektrum-Störung“ verwendet. Denn eine trennscharfe Abgrenzung zwischen den ICD-10-Kategorien der Autismus-Spektrums-Störungen sind klinisch oft nicht möglich. Laut Dr. Trapp eine positive Entwicklung, denn die neue Klassifikation könne den Betroffenen vielleicht einen individuelleren Zugang zu geeigneten Therapie- und Unterstützungsangeboten eröffnen.
Dass die Besonderheiten vieler Autisten gar nicht als Störung, sondern als Eigenart betrachtet wird, die keiner Behandlung bedarf, fordert eine wachsende Bewegung unter Forschern wie Laien unter dem Stichwort Neurodiversität. Positiv sei an dem Begriff, dass eine Stigmatisierung dadurch ein Stück weit zurückgehen könne. Auf der anderen Seite müsse man darauf achten, dass hier nicht ausgeblendet werde, dass viele Betroffene auf Hilfen angewiesen sind.
„Die Übergänge von individuellen Charakterzügen, die ‚autistische‘ Aspekte aufweisen, zur Störung mit erheblicher Beeinträchtigung der individuellen Lebensqualität sind fließend“, sagt Trapp. „Sicher spielen die Bereitschaft und Fähigkeit des individuellen sozialen Umfeldes, die Besonderheiten der Betroffenen zu akzeptieren und damit umzugehen, eine große Rolle, ob diese ihre ASS als Belastung erleben“, so Trapp weiter.
Autismus kommt selten allein
Wie hoch der individuelle Leidensdruck ist, zeigt, dass mehr als die Hälfte (53,6 %) aller ASS-Betroffenen mindestens eine weitere kinder- und jugendpsychiatrische Begleiterkrankung wie Aufmerksamkeitsdefizits- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS: 33,1 %) oder Angststörung (24,6 %) aufwiesen. „Die Mehrzahl der Betroffenen leidet an zusätzlichen, mit den ASS-verbundenen psychischen Störungen oder somatisch-neurologischen Erkrankungen, die häufig eine medikamentöse (Mit-)Behandlung erfordern“, erklärt Trapp.
Das bestätigen die hkk-Daten: 27,3 % der Betroffenen erhielten Psychopharmaka. Auf dem ersten Platz lagen dabei ADHS-Medikamente (14,2 %), gefolgt von Antipsychotika (6,7 %) und Antidepressiva (6,5 %).
Nicht-medikamentöse Behandlungen wie Psychotherapie erhielt jeder Dritte (30,0 %), gefolgt von Ergotherapie (20,9 %) und Logopädie (18,3 %). Eine Behandlung durch qualifizierte Therapeuten solle möglichst rasch nach der Diagnosestellung ermöglicht werden, so Trapp.
Aufklärung im Umfeld der Patienten
Ziel der eingesetzten Therapien ist die Verbesserung der individuellen Lebensqualität und Förderung der alltagspraktischen Kompetenz der Betroffenen. Dabei werden vor allem die Bereiche der sozialen Interaktion und belastender Verhaltensweisen in den Fokus genommen.
Wichtig ist darüber hinaus die Psycho-Edukation: Betroffene wie Eltern, Freunde und pädagogisches Personal sollten möglichst genau über die Störung aufgeklärt werden, damit sie Verständnis für die Eigenheiten und Bedürfnisse entwickeln können. Für Eltern gibt es spezielle Elterntrainings, in denen sie lernen, mit den Verhaltensweisen ihres Kinds umzugehen. In Bremen bietet der Verein Autismus Bremen e. V. mit der Beratungsstelle fachkundige Beratung. Ein möglichst tolerantes Umfeld, das die Störung nicht stigmatisiert, hilft Betroffenen sehr. pm