
„Der erste Schritt für eine erfolgreiche Suizidprävention ist es, das Schweigen über die Todessehnsucht zu brechen, soziale Isolation zu überwinden und professionelle Hilfe zu organisieren“, sagt Bundesärztekammer-Präsident Dr. Klaus Reinhardt. Foto: VicPhoto – KI-generiert/stock.adobe.com
Hoffnungslos und depressiv: Suizid ist die häufigste Todesursache bei jungen Menschen in Deutschland
Man würde als Laie alles Mögliche vermuten, wenn es um die häufigste Todesursache für Menschen in der Altersgruppe von 10 bis 24 Jahren geht. Unfälle im Haushalt, auf dem Schulweg, beim Spielen oder später beim Rasen im Straßenverkehr. Oder Krebsarten wie Leukämie oder Infektionen, für die das Immunsystem des jungen Körpers noch nicht gewappnet ist. Tatsächlich aber ist laut offiziellen Zahlen von 2023 Suizid die häufigste Todesursache bei Menschen unter 25 Jahren.
28 Suizide pro Tag in Deutschland
Die Todesursachenstatistik des Statistischen Bundesamts zeigt: 18 Prozent aller Todesfälle im Alter von 10 bis 24 Jahren waren Suizide. Und anteilsmäßig danach rangieren Verkehrsunfälle und Krebs auf der Todesursachenliste. Rund 500 junge Menschen starben in Deutschland 2023 durch Suizid. In absoluten Zahlen sterben zwar vor allem ältere Menschen durch Suizid. Doch relativ zur insgesamt sehr niedrigen Sterblichkeit im Jugendalter ist Suizid dort überproportional präsent – eine stille Hauptursache für junge Menschen.
Nach aktuellen Daten des Statistischen Bundesamts nahmen sich in Deutschland im Jahr 2023 insgesamt rund 10.300 Menschen das Leben. Das sind im Durchschnitt knapp 28 Suizide pro Tag. Im Vergleich zu 2022 (10.119 Suizide) gibt es einen leichten Anstieg von 1,8 Prozent. Die Verteilung zwischen Männern (73 Prozent) und Frauen (27 Prozent) ist dabei relativ konstant geblieben. Der Anstieg der Suizide im Jahr 2023 ist vor allem auf eine Zunahme bei den Frauen zurückzuführen (+8 Prozent), während es bei den Männern einen leichten Rückgang gab (-0,3 Prozent), berichtet der Verein Freunde fürs Leben e.V.
Große Unterschiede zwischen Bundesländern – Baden-Württemberg im Mittelfeld
Die Suizidbelastung über alle Altersschichten hinweg schwankt regional deutlich. 2023 hatten Sachsen-Anhalt (Rate 17,0 Suizidtote pro 100.000 Einwohner), Sachsen (16,9) und Hamburg (14,6) die höchsten Suizidziffern. Am niedrigsten lagen Nordrhein-Westfalen (9,0) und das Saarland (11,0). Baden-Württemberg weist mit 12,1 eine Rate knapp unter dem Bundesdurchschnitt (12,2) auf. 2023 starben im Südwesten 1373 Menschen durch Suizid.
Auch in Europa ist Suizid eine der führenden Todesursachen im Jugend- und jungen Erwachsenenalter; die Höhe variiert aber stark nach Land. Höhere jugendliche Suizidraten finden sich in Teilen Mittel- und Osteuropas (zum Beispiel Litauen, Ungarn, Slowenien), niedrige in mediterranen Ländern (zum Beispiel Zypern, Malta, Griechenland, Italien). Aber: Innereuropäische Vergleiche sind durchaus sinnvoll, aber die Registrierungspraxis bei den Suiziden und Todesursachen variiert. Eurostat und WHO weisen darauf ausdrücklich hin.

Was treibt junge Menschen in die Verzweiflung?
Die Forschung ist eindeutig: Suizid hat nie nur eine Ursache. Die stärksten individuellen Risikofaktoren sind eine vorausgegangene Suizidhandlung, psychische Erkrankungen (insbesondere Depression, Substanzstörungen), akute Krisen und Hoffnungslosigkeit; zusätzlich wirken familiäre Konflikte, Gewalt-/Missbrauchserfahrungen, Mobbing, soziale Isolation, Minderheitenstress und ökonomischer Druck. Schutzfaktoren sind tragfähige Beziehungen, schnelle Krisenhilfe, niedrigschwellige Behandlung und Medienberichterstattung nach Leitlinien.
Deutsche Besonderheiten sind weniger in den Ursachen als in der Versorgung und Epidemiologie zu sehen: Die neue S3-Leitlinie „Umgang mit Suizidalität“ bündelt evidenzbasierte Empfehlungen zur Risikoeinschätzung, Akut-Behandlung und Nachsorge im hiesigen Versorgungssystem. Regionale Unterschiede der Raten gelten als multifaktoriell (Demografie, Versorgungszugang, sozioökonomische Faktoren).
Wie viele sind betroffen, wenn ein Mensch sich das Leben nimmt?
„Die Trauerlast ist weitreichend: Jeder Suizid betrifft nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO mindestens sechs weitere Menschen – Familienmitglieder, Freund*innen und Bekannte. Das bedeutet, dass über 60.000 Menschen jährlich von dem Verlust eines nahestehenden Menschen durch Suizid betroffen sind“, teilt Freunde fürs Leben e.V. mit. Diese alte Faustzahl „sechs Angehörige“ ist aber wohl zu niedrig. Eine vielzitierte Studie um Julie Cerel schätzt, dass im Schnitt etwa 135 Menschen in irgendeiner Form exponiert sind – von unmittelbar Trauernden bis zu Mitschülen, Kollegen oder Einsatzkräften.
So oder so: „Immer noch sterben jährlich zu viele Menschen durch Suizid. Deshalb bleibt es unser Ziel, durch Aufklärung, Prävention und Entstigmatisierung, Suizide zu verhindern“, sagt Diana Doko, Gründerin und Vorständin des Vereins Freunde fürs Leben e.V. „Die aktuellen Zahlen zeigen, wie dringend notwendig unsere Arbeit weiterhin ist.“
Erste Hinweise auf einen möglichen Suizid
Oft kündigen sich Suizidhandlungen an – auch wenn die Signale schwer zu deuten sind. Häufige Warnhinweise sind:
- Rückzug von Freunden und Familie, plötzliche Isolation
- offene oder verdeckte Äußerungen über Sinnlosigkeit („Ich will nicht mehr“, „Es wäre besser ohne mich“)
- Verschenken persönlicher Dinge, Ordnen von Angelegenheiten
- deutliche Verhaltensänderungen (Aggression, Apathie, riskantes Verhalten)
- Zunahme von Alkohol- oder Drogenkonsum
- auffällige Stimmungsschwankungen, plötzliche Ruhe nach einer Phase großer Verzweiflung
Was tun, wenn man Warnhinweise erkennt?
- Direkt ansprechen: Fachleute betonen, dass Nachfragen nicht „auf dumme Gedanken“ bringt, sondern Entlastung schafft.
- Zuhören, ernst nehmen, nicht verurteilen.
- Professionelle Hilfe aktivieren: Krisendienst, Hausarzt, Psychotherapeut, Notruf 112 in akuten Situationen.
- Schutz herstellen: Wenn konkrete Suizidpläne bestehen (zum Beispiel mit Mitteln oder Ort), sofortige Krisenhilfe einschalten.
Rückfall- und Wiederholungsrisiko nach einem Suizidversuch
Ein Suizidversuch gilt als stärkster Einzel-Risikofaktor für eine spätere vollendete Tat. Studien zeigen:
- 15 % bis 30 % der Menschen mit einem Versuch unternehmen innerhalb von einem bis zu zehn Jahren erneut einen Versuch.
- 5 % bis 10 % sterben später tatsächlich durch Suizid.
Die Zeit direkt nach einem Versuch ist besonders riskant – weswegen Nachsorge zum Beispiel mit „ASSIP“- oder „Krisennachsorge“-Programmen entscheidend ist.
Wo gibt es Hilfe?
- TelefonSeelsorge: 0800 111 0 111 / 0800 111 0 222 (kostenfrei, anonym, 24/7).
- Krisendienst Stuttgart (EVA): 0180 511 0 444, weitere Telefonnummern gibt es je nach Bundesland.
- Hotline zur psychosozialen Beratung in Baden-Württemberg: 0800 377 377 6
- Für junge Menschen: krisenchat.de (24/7 per WhatsApp/Signal), Nummer gegen Kummer (116 111), B2-Onlineberatung unter www.B2-Onlineberatung.de
- Ärztlicher Notfalldienst für ärztliche Hilfe außerhalb der regulären Sprechzeiten: 116 117
- Im Notfall: 112.
- International: In Österreich Telefonseelsorge 142, in der Schweiz 143 (Die Dargebotene Hand).
- WHO/IASP listen weitere Hotlines. tok