Die psychische Erkrankungslast bedingt durch die Corona-Pandemie sowie die weiteren Krisen des Jahres 20222 ist enorm hoch. Immer mehr Menschen suchen professionelle Hilfe. Foto: KMPZZZ/stock.adobe.com
Dauerkrisenzustand führt zu deutlicher Zunahme psychischer Beschwerden
Die seelischen Probleme der Deutschen haben zugenommen. Der Andrang auf Psychiater in Praxen und Kliniken sowie auf Psychotherapeuten erreichte 2022 einen Höhepunkt: 97 Prozent hatten mehr oder gleich viele Terminanfragen als vor der Corona-Zeit, 2020 waren es 66 Prozent.
Dies sind Ergebnisse der Studie „Psychische Gesundheit in der Krise“ der Pronova BKK, für die im Januar und Februar 2023 insgesamt 150 Psychiater und Psychotherapeuten befragt wurden.
Keine Resilienz aufgebaut
Die vergangenen drei Jahre waren geprägt von Krisen, die sich massiv auf das Seelenleben der Deutschen ausgewirkt haben. Resilienz ist die Fähigkeit, Belastungssituationen auszuhalten. Experten glaubten, dass eine überstandene Coronakrise diese Resilienz fördert und die Deutschen gestärkt aus der Pandemie hervortreten. Aber: Aus zwei durchgestandenen Jahren im Zeichen der Corona-Pandemie gehen viele Menschen nicht gestärkt hervor, sie benötigen psychische Hilfe.
„Die Menschen sind von einer in die nächste Krise gerutscht – mitunter sogar in mehrere zeitgleich. Es gab kaum Freiraum, um die eigene Resilienz zu stärken.“
Dr. Sabine Köhler, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie
Mit der Corona-Pandemie fingen die Krisenjahre an
Nur drei Prozent der befragten Psychiater und Psychotherapeuten hatten 2022 weniger Anfragen von Patienten, im ersten Corona-Jahr 2020 gingen die Nachfragen noch bei 34 Prozent der Befragten zurück.
Im multiplen Krisenjahr 2022 haben die Terminanfragen in Kliniken und Praxen im Vergleich zum Vorjahr nochmals um 22 Prozentpunkte zugenommen. Bei allen Befragten stellte 2022 das bisher stärkste Jahr dar: 80 Prozent hatten mehr Anfragen als vor der Pandemie, im Vorjahr waren es 58 Prozent und im ersten Corona-Jahr 35 Prozent. Den größten Andrang verzeichneten niedergelassene Psychiater: 84 Prozent hatten mehr Anfragen als vor der Corona-Pandemie. Der stärkste Anstieg der Anfragen im Vergleich zum Vorjahr betraf die Psychiater in Kliniken (76 Prozent zu 38 Prozent).
„Die Coronakrise hat alle Lebensbereiche der Menschen betroffen. Sie hat die Menschen vor Situationen gestellt, die sie sich bis dahin nicht haben vorstellen können. Gleichzeitig leben wir in einem sozialen System, das viel Schutz bietet. Die allermeisten Menschen sind weitestgehend ohne Gefahren – außer mit Erkrankungen oder persönlichen Schicksalsschlägen – sozialisiert. Die Coronakrise hat die gesamte Gesellschaft verunsichert.“
Dr. med. Sabine Köhler, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie
Hohe Dunkelziffer bei psychischen Problemen
„Die psychische Erkrankungslast bedingt durch die Corona-Pandemie sowie die weiteren Krisen des Jahres 20222 ist enorm hoch. Die Menschen kommen mit höherem Leidensdruck als in den Vorjahren zu uns“, sagt Dr. med. Sabine Köhler, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. „Politik und Medizin hatten zunächst darauf gehofft, dass die Beschwerden mit jeder weiteren milder verlaufenden Corona-Welle weniger werden. Doch das Gegenteil ist der Fall: Der Andrang nimmt weiter zu, psychische Probleme verstärken sich auch 2022 erneut. Die Menschen haben kaum eine Chance gehabt, nach einer Krise durchzuatmen und Resilienz aufzubauen.“
Hinzu kommt, dass die Terminanfragen in den Praxen und Kliniken nur die Spitze des Eisbergs bilden: 93 Prozent der Psychiater und Psychotherapeuten gehen davon aus, dass die Dunkelziffer psychischer Probleme sehr hoch ist – also viel mehr Menschen betroffen sind, als in ihrer Praxis erscheinen.
Depressionen und Schlafstörungen erreichen ihren Höhepunkt
Die häufigste Diagnose im Jahr 2022 lautete „Müdigkeit, Erschöpfung und Antriebslosigkeit“, 84 Prozent der Befragten stellten dies bei ihren Patienten fest, 2020 wurde dies nur von 39 Prozent diagnostiziert. Auch Traurigkeit (77 Prozent) hat gegenüber 2020 um 31 Prozentpunkte zugenommen. Schlafstörungen sind von 73 Prozent der Befragten im vergangenen Jahr besonders häufig festgestellt worden, ein Anstieg um 18 Prozentpunkte gegenüber 2021. Davor waren sie bereits um 14 Prozentpunkte angestiegen. Neue Patienten suchten vor allem aufgrund von Traurigkeit (93 Prozent) und Müdigkeit (92 Prozent) psychologische Hilfe. Bei Patienten, die schon vor der Pandemie in Behandlung waren, haben die Krisen meist Überforderung im Familienleben oder Homeoffice ausgelöst.
Schlafstörungen und auch Depressionen haben 2022 ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Insgesamt diagnostizierten Psychiater und Psychotherapeuten seit Beginn des ersten Corona-Jahres besonders häufig Depression und Angststörung, die von Jahr zu Jahr zunahmen. Im vergangenen Jahr lautete die Diagnose bei 83 Prozent der Befragten Depression, 2020 waren es 50 Prozent, im zweiten Corona-Jahr (2021) 74 Prozent.
„Resilienz bedeutet, mit den Anstrengungen des Lebens und des Alltags gut und besser zurecht zu kommen. […] Es geht darum, die eigenen Schutzmechanismen, die jede und jeder individuell erlernt hat, zu aktivieren.“
Dr. Sabine Köhler, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie
„Depressionen und depressive Verstimmungen waren nicht etwa während der Isolation in den Lockdowns besonders verbreitet, sondern 2022. Oft bauen sich die Probleme über Monate oder Jahre auf und die Menschen suchen sich erst bei hohem Leidensdruck professionelle Hilfe“, sagt Fachärztin Dr. Köhler. „Neben der Pandemie haben auch weitere Krisen wie Inflation oder Ukraine-Krieg Depressionen ausgelöst oder verstärkt.“ 92 Prozent gaben in der Studie an, Depressionen und depressive Verstimmungen hätten durch aktuelle Krisen zugenommen.
Hilfe holen, wenn der Druck zu groß wird
Ganz wichtig: Bei anhaltenden psychischen Beschwerden raten Experten dazu, sich Hilfe zu suchen. Erste Anlaufstelle ist die Hausarztpraxis. Eine Anmeldung in einer psychiatrischen Facharztpraxis oder bei der Psychotherapeutin bzw. beim Psychotherapeuten ist möglich und kann über die Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen organisiert werden. Die deutschlandweite Rufnummer ist 116 117. Aber auch die Krankenkasse kann bei der Suche nach psychologischer Unterstützung weiterhelfen. Auf keinen Fall, so rät es die die Pronova BKK, sollten Betroffene zur Stressbewältigung zu Alkohol oder Drogen greifen.
Hier finden Sie mehr Informationen zur Studie „Psychische Gesundheit in der Krise“
Über die Studie
Für die Studie „psychische Gesundheit in der Krise“ der die Pronova BKK wurden im Januar und Februar 2023 bundesweit 150 Personen online befragt, darunter 50 Klinikpsychiater, 50 niedergelassene Psychiater und 50 Psychotherapeuten.