Fast 20 % aller Erstanträge auf Pflegeleistungen werden abgelehnt. Ein Widerspruch kann helfen, denn um den richtigen Pflegegrad zu ermitteln, müssen viele Punkte im Leben des Pflegeempfängers berücksichtigt werden. Nicht immer gelingt das. Foto: HNFOTO/stock.adobe.com
Pflegeleistungen in Deutschland: Jeder fünfte Erstantrag wird abgelehnt
Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums werden fast 20 % aller Erstanträge auf Pflegeleistungen abgelehnt. „Im Falle einer Ablehnung ist es wichtig, Widerspruch einzulegen“, rät Maximilian Haas, Leiter der Pflegeberatung beim Verbund Pflegehilfe. Dieser Widerspruch muss innerhalb von vier Wochen bei der Pflegekasse eingehen.
„Betroffene sollten unbedingt eine Kopie des Gutachtens einfordern. Oft finden sich dort Diskrepanzen zwischen der Realität des Pflegealltags und der Einschätzung des Gutachters“, so Haas.
Momentaufnahme oft nicht aussagekräftig
Der Besuch des Gutachters im Rahmen der Feststellung der Pflegebedürftigkeit ist für viele Familien ein nervenaufreibender Termin. „Auf einmal steht ein fremder Mensch in der Wohnung, und der Ausgang des Gutachtens entscheidet über die finanzielle Zukunft.“ In diesem Moment fühlen sich Betroffene oft überfordert.
Auch pflegebedürftige Personen erscheinen am Tag des Gutachtens aufgrund der ungewöhnlichen Situation nicht selten fitter als sonst. „Oft schwingt hier ein Schamgefühl mit. Das ist aber gar nicht nötig. Wer pflegebedürftig ist, hat Anspruch auf die Leistungen. Dafür muss sich niemand schämen“, rät Haas.
Feststellungssyszem lässt teils subjektive Beurteilungen zu
Im Interview mit dem Apothekenmagazin „Senioren Ratgeber“ 01/2023 erklärt die Pflegeforscherin Martina Hasseler, warum es manchmal auch zu Fehleinschätzungen kommt: „Ein Problem ist, dass das System in den Modulen teils subjektive Beurteilungen und Bewertungen zulässt. Bei psychischen Erkrankungen zum Beispiel hängt alles von der Einschätzung des Begutachtenden ab.“
Darüber hinaus, sagt die Expertin, würden etwa in dem Modul, in dem es um die kognitiven Fähigkeiten geht, Personen mit Einschränkungen wie Demenz profitieren. „Wer erblindet ist, bekommt keine Punkte im Bereich örtliche Orientierung. Das wirkt sich auf die Gesamtwertung aus.“
Ein Bewertungssystem mit Vorlieben
Das Bewertungssystem ist überwiegend auf Menschen mit demenziellen Erkrankungen ausgelegt. Das führe aber dazu, dass „Menschen mit psychischen oder körperlichen Erkrankungen sehr schwer einen hohen Pflegegrad erreichen, obwohl sie hilfe- und pflegebedürftig sind.“
Wie konnte das passieren? „Das liegt am Verständnis von Pflegebedürftigkeit: Für viele Politikerinnen und Politiker sind Pflegebedürftige alte, fragile Menschen oder Menschen mit Demenz“, sagt Hasseler.
Hochschwellige Gutachten erschweren Verständnis
In Deutschland wird die Pflegebedürftigkeit seit 2017 anhand eines Katalogs mit 6 Modulen und insgesamt 64 Fragen bestimmt. Das sogenannte neue Begutachtungsassessment (NBA) verwendet ein kompliziertes Berechnungssystem, dass die Module unterschiedlich stark gewichtet.
„Dieses System ist so hochschwellig, dass es für viele Pflegepersonen kaum greifbar ist. Im stressigen Pflegealltag fehlt da meistens schon die Zeit, um sich damit auseinanderzusetzen“, erzählt Cornelia Hermann, Pflegeexpertin beim Verbund Pflegehilfe. Sie rät zur Herbeiziehung eines Pflegegrad-Rechners. Auch Pflegeforscherin Martina Hasseler empfiehlt, Widerspruch einzulegen. „Suchen Sie sich am besten Hilfe. Etwa bei Sozialverbänden oder Fachanwälten. Es ist wichtig, hier richtig vorzugehen.“
Gute Vorbereitung aufs Gespräch ist unerlässlich
„Wir haben den kostenlosen Pflegegrad-Rechner auf Basis der offiziellen Berechnungsgrundlage entwickelt, um unsere Klienten direkt zu unterstützen“, erklärt Maximilian Haas. Mit dem Pflegegrad-Rechner treffen Betroffene schnell eine Selbsteinschätzung. Die Ergebnis-Datei dient gleichzeitig als Pflegetagebuch.
Im Falle eines Widerspruchs dient die Ergebnis-Datei zum Abgleich mit dem Ergebnis des Medizinischen Dienstes (bzw. MEDICPROOF). „Bestehen Sie auf Ihr Recht“, rät Haas. „Wir alle zahlen jahrelang in die Pflegeversicherung ein. Wenn Sie Hilfe brauchen, steht diese Ihnen auch zu. Das ist Ihr Geld.“
Den kostenlosen Pflegegrad-Rechner finden Sie hier: www.pflegehilfe.org/service/pflegegrad-rechner