Wenn plötzlich verschiedenste Nervenzellen im Gehirn gleichzeitig und unkontrolliert Impulse abgeben, ist zumeist eine von mehr als 30 Formen der Epilepsie die Ursache. Die Symptome fallen ganz unterschiedlich aus – je nachdem, ob das ganze Gehirn oder eine bestimmte Region betroffen sind. Foto: Larisa (KI generiert)/stock.adobe.com

Studie des Epilepsie-Zentrums Bethel: Früher wieder Autofahren nach Anfällen

Wann darf ich wieder Autofahren? Das ist, neben der Genesung, eine der zentralen Fragen für Menschen, die zum ersten Mal epileptische Anfälle erleiden. Werden die Betroffenen, die an einer Gehirnentzündung durch Oberflächen-Antikörper (Autoimmun-Encephalitis) erkranken, früh und angemessen therapiert, ist die Chance auf Anfallsfreiheit groß. Dennoch müssen Erkrankte erst ein Jahr ohne Anfälle bleiben, bevor sie wieder Autofahren dürfen.

Eine internationale Studie unter Federführung des Epilepsie-Zentrums Bethel in Bielefeld macht bestimmten Betroffenen nun Hoffnung auf eine frühzeitigere Rückkehr hinter das Steuer.

Große Studie macht Epilepsie-Patienten Hoffnung

„Die Fahrtauglichkeit ist ein ganz großes Thema unter den Patientinnen und Patienten, weil ein Verbot eine massive Einschränkung für sie bedeutet“, erläutert Dr. Ulrich Specht, Oberarzt am Epilepsie-Zentrum Bethel. „Sie verlieren ein Stück ihrer Unabhängigkeit, kommen nicht mehr zur Arbeit, zu Freunden oder Verwandten.“ Laut aktueller Führerschein-Leitlinie müssen Menschen in Deutschland mit wiederholten epileptischen Anfällen ein Jahr anfallsfrei sein, bevor sie wieder Auto fahren dürfen. „Durch unsere Studie haben die Patientinnen und Patienten große Hoffnungen auf eine liberalere Politik“, ergänzt der Epilepsie-Experte.

In seiner Studie hat das Epilepsie-Zentrum Bethel federführend in Zusammenarbeit mit 34 Forschern aus 14 Kliniken und Zentren weltweit, die auf Autoimmun-Encephalitis spezialisiert sind, über mehrere Jahre Daten von 981 Patientinnen und Patienten mit dieser Erkrankung zusammengetragen und ausgewertet. In der renommierten US-amerikanischen Fachzeitschrift „Neurology: Neuroimmunology & Neuroinflammation“ wurden die Ergebnisse jetzt veröffentlicht.

Für Dr. Anna Rada und Dr. Ulrich Specht vom Epilepsie-Zentrum Bethel sind die Studienergebnisse ein großer Schritt in Richtung der individualisierten Beurteilung der Fahreignung bei Menschen mit Anfällen. Bildrechte/Foto: v. Bodelschwinghsche Stiftungen

EU ist schon weiter als die deutsche Führerschein-Richtlinie

Das Forscher-Netzwerk konnte dabei nachweisen, dass Patientinnen und Patienten, deren Erkrankung durch einen von zwei Antikörpern (NMDAR und LGI1) ausgelöst werden, sehr gut auf eine Immuntherapie ansprechen und anfallsfrei werden. Sind sie mindestens drei Monate anfallsfrei geblieben, ist das Risiko, zukünftig wieder Anfälle zu erleiden, so gering, dass sie bereits nach diesen drei Monaten wieder Auto fahren dürften. „Das wäre für Patientinnen und Patienten im Alltag natürlich eine große Erleichterung, dass sie nicht ein Jahr pausieren müssen“, so Dr. Anna Rada, Erstautorin der Studie und Oberärztin am Epilepsie-Zentrum Bethel. „Unsere Ergebnisse sind ein Schritt in Richtung zur individualisierten Beurteilung der Fahreignung bei Menschen mit Anfällen.“

Grundlage für diese Arbeit ist der Forschungsbericht einer Fachkommission der Europäischen Union: Menschen mit epileptischen Anfällen dürfen wieder Autofahren, wenn sie anfallsfrei sind und das Risiko eines erneuten Anfalls in den folgenden zwölf Monaten unter 20 Prozent liegt. Diese Regelung ist in der aktuell gültigen deutschen Führerschein-Leitlinie allerdings noch nicht enthalten. Für die sich aktuell in Überarbeitung befindende Leitlinie bietet die Studie aus Bethel gute Grundlagen.

Für LKW-, Bus- und Taxifahrer mit epileptischen Anfällen gelten hingegen strengere Vorgaben wegen des größeren Risikos von schweren Verkehrsunfällen bzw. Unfällen mit Fahrgästen.       

800.000 Menschen in Deutschland von Epilepsie betroffen

Ein Mensch fällt zu Boden, der ganze Körper krampft und zuckt – so stellen sich die meisten Menschen eine Epilepsie vor. Doch tatsächlich gibt es viele Formen der Epilepsie, manche Anfälle verlaufen sogar nahezu unbemerkt. Epileptische Anfälle können in jedem Lebensalter auftreten. Ein einzelner Anfall ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einer Epilepsie, wie zum Beispiel ein Fieberkrampf bei einem Kleinkind. Erst wenn es zu mindestens zwei Anfällen hintereinandergekommen ist, die keine ersichtliche Ursache haben und zwischen denen mindestens 24 Stunden lagen, wird oft eine Epilepsie festgestellt.

Etwa 0,5 bis ein Prozent der Menschen hierzulande sind an einer Epilepsie erkrankt, das sind bis zu 800.000 Betroffene in Deutschland. Oft lässt sich keine eindeutige Ursache für die Epilepsie feststellen. Hinter den Anfällen können zum Beispiel auch Kopfverletzungen, Entzündungen der Hirnhaut oder des Gehirns, Veränderungen des Stoffwechsels im Gehirn oder Schlaganfälle stecken. In manchen Fällen ist eine Epilepsie genetisch bedingt.

Die pharmazeutischen Unternehmen entwickeln immer mehr Therapeutika – vor allem Antiepileptika – um die Behandlung an die unterschiedlichen Epilepsie-Formen und -Syndrome individuell anpassen zu können. „Zwei Drittel der Patientinnen und Patienten werden damit anfallsfrei“, betont Dr. Pablo Serrano, Geschäftsfeldleiter Innovation und Forschung beim Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V. (BPI). Dank der großen Auswahl an wirksamen Therapien gilt die Epilepsie als die am besten zu behandelnde Erkrankung der Nervenheilkunde. Zudem sind Gentherapien für Menschen in Sicht, bei denen die Epilepsie schwer zu therapieren ist.    pm